Digitales KupplungssystemSBB versprechen eine Revolution – ihr Ex-Chef winkt ab
Gütertransporte sollen dank digitaler Kupplungen effizienter und schneller werden. Der Bund wird sich finanziell beteiligen. Benedikt Weibel kann darüber nur den Kopf schütteln.
Beat leistet Schwerarbeit. Und das seit vierzig Jahren, in Tag- und zahlreichen Nachtschichten: Er klettert zwischen die Gleise. Dort hängt er den schweren Bügel am einen Wagen aus, hievt ihn in den Haken des anderen. Dann dreht er kraftvoll die Spindel, bis die Kuppelkette gestrafft ist. Sind alle Wagen des Güterzugs gekoppelt, folgt die Bremsprobe. Beat läuft den gesamten, oft einen halben Kilometer langen Zug ab und kontrolliert jede einzelne Bremse.
Wenn es nach den grossen europäischen Bahnbetreibern geht, sind diese Zeiten bald vorbei. Am Freitag informierten die SBB gemeinsam mit Branchenorganisationen in Bern über eine neue automatische, digitale Kupplung. Dank ihr brauchen in Zukunft keine Arbeiter mehr auf die Schiene zu kraxeln. Stattdessen lassen sich die Wagen auf Knopfdruck kuppeln. Dabei wird auch eine Datenleitung verbunden, über die zahlreiche Messdaten übermittelt werden. Die Bremsprobe lässt sich neu aus dem Führerstand machen.
In Europa soll ein einheitliches automatisches und digitales Kupplungssystem zum Einsatz kommen. Darin sind sich die grossen Bahnbetreiber und die Europäische Union inzwischen einig geworden. Die Schweiz übernimmt bei diesem Vorhaben eine führende Rolle. Da die Anforderungen von Rangierbahnhof zu Rangierbahnhof unterschiedlich sind, wird die Technik intensiv getestet – in den vergangenen Monaten auch auf verschiedenen Strecken und in Bahnhöfen der Schweiz.
Eine mehr als hundert Jahre alte Technik
Bei SBB Cargo setzt man grosse Hoffnungen in die neue Kupplung. «Es ist fünf vor zwölf», sagt Jasmin Bigdon, Vizechefin des Unternehmens. «Die neue Kupplung ist zwingend nötig, damit der Wagenladungsverkehr auf der Schiene auch in der Logistik von morgen noch eine Rolle spielt.»
«In wie vielen noch existenten Branchen gab es innert eines Jahrhunderts keinen Technologiesprung?»
Bigdon deutet auf das Foto des eingangs erwähnten Mitarbeiters an der Leinwand. Beat stehe kurz vor der Pensionierung, sagt sie. Die heute eingesetzte Kupplungstechnik sei aber doppelt so alt wie er. Und sie fragt: «In wie vielen noch existenten Branchen gab es innert eines Jahrhunderts keinen Technologiesprung?»
Obschon der Konkurrenzkampf zwischen Schiene und Strasse gross ist, gibt sich Bigdon zuversichtlich: Die Masse der zu transportierenden Güter werde weiter zunehmen. Zugleich müssen die Emissionen gesenkt werden. Der Transport per Bahn bleibe deshalb attraktiv. Und auch, weil der Transport auf der Schiene verlässlicher ist als auf den notorisch verstopften Strassen. Allerdings seien Innovationen nötig. Die neue Kupplung mache die Bahn flexibler, schneller und das Angebot besser – insbesondere auf der letzten Meile zu den Kunden und in etwas abgelegeneren Gebieten.
Benedikt Weibel zweifelt am Sinn der Umstellung
Benedikt Weibel kann darüber nur den Kopf schütteln. «Die automatische, digitale Kupplung als die Rettung des Güterverkehrs zu verkaufen, ist höchst problematisch», sagt der ehemalige SBB-Chef, der heute als Präsident des Aufsichtsrates der Westbahn in Österreich und als Buchautor arbeitet, am Telefon. Die Güterwagen umzurüsten, sei «eine gewaltige Investition, die wenig Sinn macht».
Denn dort, wo die automatische Kupplung die grössten Effizienzgewinne verspreche, habe die Schiene längst verloren: «Auf der Kurzstrecke und für die Feinverteilung sind Lastwagen flexibler, effizienter und günstiger.» Ein grosses Potenzial habe hingegen der internationale Güterverkehr, etwa zwischen Nord- und Südeuropa. «Auf diese Distanzen spielt aber das bisschen Zeit, das zum manuellen Kuppeln benötigt wird, keine grosse Rolle.»
«Der kleinräumige Güterverkehr in der Schweiz ist längst überholt.»
Jüngst habe er am Escher-Wyss-Platz in Zürich beobachtet, wie eine Diesellok zwei Güterwagen abgeschleppt habe. Es mache keinen Sinn, Wagen einzeln einzusammeln, sagt Weibel. «Der kleinräumige Güterverkehr in der Schweiz ist längst überholt.» Das sehe auf einen Blick, wer etwa durch Pratteln-Nord streife – ein mit Gleisen durchsetztes Industriequartier im Baselbiet. «Kein einziges Gleis ist noch in Betrieb, ausser vielleicht als Velofalle.»
Früher sei das fein verästelte Cargogeschäft im Inland wichtig gewesen, schildert Weibel. Doch dann brach es im Zuge der Ölkrise der 1970er-Jahre ein. «Es hat sich nie mehr erholt. Wann, wenn nicht jetzt, schneiden wir den alten Zopf ab?»
Doch genügt die Strassenkapazität für die zukünftigen Anforderungen beim Gütertransport? In der Nacht seien die Strassen fast leer, argumentiert Weibel. «Sobald es genügend Lastwagen gibt, die emissionsarm und leise unterwegs sind, sollten wir das Nachtfahrverbot aufheben.» Statt in neue Kupplungen investiere die Schweiz besser in Projekte, die relevante CO₂-Einsparungen bewirkten.
Wer soll das bezahlen?
Unterstützung für die Pläne der Branche kommt dagegen von Peter Füglistaler, Direktor des Bundesamts für Verkehr. Er sagt an der Infoveranstaltung in Bern: «Der Güterverkehr wurde in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt.» Insbesondere beim Wagenladungsverkehr müsse sich die Schweiz entscheiden: «Dort noch mehr abzubauen, bedeutet das schleichende Ende dieses Angebots.» Um den Güterverkehr insgesamt wieder auf Kurs zu bringen, brauche es nebst einem starken politischen Willen Investitionen. «Es ist absehbar, dass der Bund finanzielle Unterstützung leisten muss. Wir erwarten aber, dass sich die Branche massgeblich beteiligt.»
Diese Woche wird der Bundesrat voraussichtlich einen Bericht zur Zukunft des Güterverkehrs in der Schweiz vorlegen. Der Ständerat hat diesen angefordert, mit zwei zentralen Aufträgen: Der Bundesrat soll darlegen, welche Güter im Inland ökonomisch und ökologisch sinnvoll mit der Bahn transportiert werden können. Und er soll aufzeigen, welche Investitionen in die Automatisation und Digitalisierung nötig sind.
Der Testzug ist noch bis Ende Jahr auf dem europäischen Schienennetz unterwegs. Parallel dazu arbeiten die SBB an einem Zeitplan für die Umrüstung der Güterwagen vom alten auf das neue Kupplungssystem. Das Bundesamt für Verkehr erarbeitet in den nächsten Monaten eine Vorlage mitsamt Finanzierungsvorschlag, der in etwa einem Jahr ins Parlament kommen könnte.
Der SBB-Rangierarbeiter Beat wird wohl nicht mehr umlernen müssen. Denn bis alle Kupplungen ersetzt und die Abläufe neu aufgegleist sind, wird es noch einige Jahre dauern. Die SBB und ihre europäischen Partnerbahnen peilen eine Umstellung bis 2030 an.
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