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Sandra Kälin vom FC Wädenswil
«Diese Fussballerinnen waren es wert, den Zwiespalt in Saudiarabien auszuhalten»

Co-Trainerin und Vorbild: Sandra Kälin hilft 2022 mit, das saudische Frauennationalteam aufzubauen.

Sie kennt die ganze Bandbreite an Reaktionen. Von «Wieso musst du denn tschutte?» bis «Wow, du spielst in der NLA, beim FC Basel!»

So war das damals im Klosterdorf Einsiedeln, wo Sandra Kälin aufgewachsen ist. Und diese Erinnerung spielt mit, wenn sie heute in Wädenswil auf dem Fussballplatz steht. Nicht mehr als Spielerin, sondern als Trainerin.

Die 36-Jährige organisiert mit ihrer Firma Fussball-Camps für Kinder, die meisten davon rund um den Zürichsee. Das Angebot in Wädenswil ist in diesen Frühlingsferien ausgebucht. 115 Kinder sind dabei. Und was Sandra Kälin besonders freut: 30 Prozent davon sind Mädchen.

Sie führt diesen hohen Anteil auch auf die vorbildliche Arbeit des FC Wädenswil zurück, in dem sie selbst noch als Spielerin aktiv ist. Die Frauen- und die Juniorinnenabteilung haben mit Tom Schertenleib, Vater von Neo-Nationalspielerin Sidney Schertenleib, ihren eigenen Leiter. «Wädenswil ist einer der wenigen Vereine in der Region, die die Mädchen nicht einfach mitlaufen lassen, sondern gleichwertig fördern», sagt sie. Das liegt Sandra Kälin auch in ihren eigenen Camps am Herzen.

Sandra Kälin, ehemalige Spitzenfussballerin aus Einsiedeln, heute hat sie ein Unternehmen und coacht junge Nachwuchstalente, angetroffen in Wädenswil auf der Beichlen in einem Trainingslager mit Jugendlichen, 1.5.24, Foto: Manuela Matt, manuelamatt.ch

Die Anzahl lizenzierter Fussballerinnen hat sich hierzulande in den vergangenen 20 Jahren vervierfacht. Heuer wurde erstmals die 40’000er-Marke geknackt. Dennoch muss Sandra Kälin jeweils schmunzeln, wenn von einem Boom im Frauenfussball die Rede ist. «Die Mädchen waren schon lange bereit», bemerkt sie. «Nur wurden sie von den Medien und der Gesellschaft lange nicht beachtet.»

Mit Vorbehalten nach Riad

Sandra Kälin spricht von Sichtbarkeit, Ermächtigung und immer wieder davon, wie wichtig weibliche Vorbilder für die Mädchen sind. Auch darum hat sie vor gut zwei Jahren nicht Nein gesagt zu einer Sache, «zu der ich im ersten Moment nicht unbedingt Ja sagen wollte».

Die einstige Spitzenfussballerin fliegt im Januar 2022 nach Riad, um als Co-Trainerin mitzuhelfen, das neu gegründete saudische Frauen-Nationalteam aufzubauen. Der Wüstenstaat, in dem Frauen bis vor kurzem weder Auto fahren noch wählen und nicht einmal als Zuschauerinnen ein Stadion betreten durften, will vorwärtsmachen mit dem Frauenfussball. Die Deutsche Monika Staab wird als Cheftrainerin verpflichtet. Ihre Aufgabe: schnellstmöglich aus 700 Bewerberinnen ein kompetitives Kader zusammenzustellen.

Über die Fifa kommt der Kontakt zu Sandra Kälin zustande, einer unabhängigen jungen Frau mit den richtigen Diplomen, die zunächst allerdings skeptisch ist. Schliesslich hat sie in der Schweiz bereits einmal miterlebt, wie langsam und zuweilen widerwillig Fussballerinnen gefördert werden. Sie will sich darum vor Ort vergewissern, wie ernst es den Saudis unter Kronprinz Mohammed bin Salman ist mit dem Projekt. «Auch ich hatte meine Vorurteile», sagt sie. «Und war dann überrascht von der Offenheit der Leute und der Konsequenz, mit der sie die Sache verfolgen.» Der Staff umfasst ein Dutzend Leute, darunter eine Videoanalystin, die mit José Mourinho und Chelsea die Champions League gewann.

Sandra Kälin trifft in Saudiarabien auf einen Kreis technisch guter Fussballerinnen. Im taktischen Bereich gibt es hingegen viel zu tun.

Auch in Saudiarabien sind die Frauen längst bereit. Hunderte von ihnen kommen sozusagen aus dem Nichts, um für einen Sport vorzuspielen, den es für sie offiziell bis zu diesem Termin gar nicht gab. «Wir haben Anfängerinnen erwartet, und es kamen selbstbewusste, technisch durchaus versierte Spielerinnen», erinnert sich Kälin. Ein Teil der Frauen hatte an Universitäten in den USA und Kanada studiert und trainiert. Andere hatten jahrelang mit ihren Brüdern und Cousins in Hinterhöfen gekickt. Jüngst berichtete die ARD über den Frauenfussball in Saudiarabien. Im Beitrag des «Weltspiegels» erzählt die 34-jährige Saja Kamal, wie sie in ihrer Kindheit heimlich Fussball spielte und sich als Junge verkleidet ins Stadion schlich, um ihren Verein al-Hilal zu unterstützen.

Solche Geschichten hört auch Sandra Kälin. Sie weiss um die Widersprüchlichkeit. Dass die Frauen im Land inzwischen mehr Spielraum haben und die Gleichberechtigung doch weit entfernt ist. In vielen Bereichen des Lebens fällt noch immer ein männlicher Vormund die Entscheidungen für die Frauen, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten werden laut Amnesty International nach wie vor systematisch verfolgt. Sandra Kälin sagt: «Für mich waren es diese Fussballerinnen wert, den inneren Zwiespalt auszuhalten.»

Vom Waisenkind bis zur Prinzessin

25 Frauen schaffen es schliesslich ins erste saudische Frauen-Nationalteam. Studentinnen treffen auf Bankerinnen, einstige Waisenkinder auf eine Prinzessin des Königshauses. Beim ersten Länderspiel am 20. Februar 2022 gegen die Seychellen ist das weltweite Medieninteresse riesig, der Druck, nicht zu versagen, ebenfalls. Vor allem für die Spielerinnen. «Es war ihnen unheimlich wichtig, das Königreich positiv zu repräsentieren», sagt Kälin.

Nach dem 2:0-Sieg fliessen Tränen des Glücks und der Erleichterung. Und ein Gratulant rührt die Frauen ganz besonders. Pelé nennt in seiner persönlichen Botschaft via Social Media alle Spielerinnen beim Namen. Und diese schicken der inzwischen verstorbenen brasilianischen Fussball-Ikone später zum Dank ein Trikot mit allen Unterschriften. Pelé hängt das Präsent in seinem Wohnzimmer auf und teilt ein Bild davon medienwirksam auf Social Media.

Das saudische Frauen-Nationalteam feiert im Februar 2022 auf den Malediven den Premierensieg. Mittendrin ist auch Sandra Kälin.

Die historische Mission ist ein Erfolg, dennoch kehrt Sandra Kälin nach drei Monaten in die Schweiz zurück. Das sei von Beginn weg so abgemacht gewesen. Schliesslich sind da ihre Firma und die Arbeit als Instruktorin des Schweizer Fussballverbands (SFV). Nur zehn Frauen verfügen landesweit über dieses Diplom, bei den Männern sind es 240. Und es sind auch hauptsächlich Männer, die zu Sandra Kälin in die Trainerausbildung kommen. Ihr gefällt der Job, sie schätzt den Respekt und ganz besonders, dass die Kompetenz im Vordergrund steht und ihr Geschlecht kein Thema mehr ist.

NLA-Trikot selbst gekauft

Das ist noch anders, als sie mit 16 Jahren von Einsiedeln wegzieht und in der NLA für Schwerzenbach (dem heutigen GC) debütiert. Ihr Antrieb sind Leidenschaft und Ehrgeiz, mit Politik und Feminismus setzt sie sich um die Jahrtausendwende nicht bewusst auseinander. Doch auch sie irritiert, dass sich die Frauen in der höchsten Liga ihr Trikot selbst kaufen müssen. Anfang 20 wechselt sie für zwei Jahre in die USA, gewinnt die Uni-Meisterschaft und ist beeindruckt, wie gleichberechtigt und individuell die Sportlerinnen in den Staaten gefördert werden.

Ihre nächste und zugleich letzte Station als Spitzenfussballerin ist der FC Basel. Sandra Kälin tritt 2014 zurück. Sie ist jetzt 27 und erschöpft. Jahrelang hat sie als Halbprofi Fussball gespielt und nebenbei gearbeitet. «Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts und niemandem gerecht werde. Weder im Fussball noch bei meiner Arbeit.» Zum Ausklang engagiert sie sich als Spielertrainerin unter anderem in Kloten und Wiesendangen und gewinnt mit der Schweiz 2019 noch eine EM-Bronzemedaille im Beachsoccer.

Die Idole sind nun weiblich

Sandra Kälin ist der Meinung, dass die Frauen lange genug um Anerkennung gekämpft hätten. Sie fordert einen Wandel von oben. Nur die Verbandsspitze und die Clubs könnten die Strukturen nachhaltig verändern. Sie nennt ein kleines Beispiel, das für Grösseres steht: «Auf vielen Vereinswebsites werden Frauen- und Juniorinnenteams unterhalb der Männermannschaften aufgeführt.» Ihr Punkt: Die Frauen stehen zuunterst in der Hierarchie. Als Anhängsel. Sie ist überzeugt, dass mit der gleichwertigen Nennung von Frauen- und Männerabteilung versteckte Diskriminierungen wie diese leicht gelöscht werden könnten.

In Saudiarabien wurde für die Fussballerinnen mit grosser Kelle angerührt. In der Schweiz wird das nicht passieren. Das weiss Sandra Kälin und setzt auf die kleinen Fortschritte. So ist ihr im Camp in Wädenswil aufgefallen, wie viele der Mädchen inzwischen weibliche Idole haben: «Vorbild ist nicht mehr Granit Xhaka, sondern Lia Wälti.» Sie hofft, dass spätestens die Heim-EM 2025 noch eine Reihe neuer Namen liefern wird. Und statt Wieso mehr Wow.

Sandra Kälin, ehemalige Spitzenfussballerin aus Einsiedeln, heute hat sie ein Unternehmen und coacht junge Nachwuchstalente, angetroffen in Wädenswil auf der Beichlen in einem Trainingslager mit Jugendlichen, 1.5.24, Foto: Manuela Matt, manuelamatt.ch