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Neuer Roman «Knife»
Meisterhaft – Salman Rushdie liefert das Buch zur Gegenwart

dpatopbilder - 22.10.2023, Hessen, Frankfurt/Main: Der britisch-indische Autor Salman Rushdie (vorn), Laudator Daniel Kehlmann (r) und Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen) kommen zur Verleihung des Friedenspreis des Deutschen Buchhandels in die Paulskirche. Der Preis ist mit 25 000 Euro dotiert und gilt als eine der bedeutendsten Auszeichnungen des Landes. Foto: Arne Dedert/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ (KEYSTONE/DPA/Arne Dedert)
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Wenige Tage nach dem zum Glück wirkungslosen Angriff des Iran auf Israel erscheint das neue Buch von Salman Rushdie, der 1989 vom iranischen Revolutionsführer zum Tode verurteilt wurde. Und der diesem alten Fluch im Sommer 2022 bei einer Lesung in New York beinahe erlegen wäre.

Die Geschichte von Salman Rushdie ist die Geschichte unserer Gegenwart. Von Anfang an war alles da: Als sein Leben durch die Fatwa des Ayatollah Khomeini bedroht wurde, der sich durch Rushdies Roman «Die satanischen Verse» provoziert fühlte, war die britische, die westliche Öffentlichkeit durchaus gespalten: Im Konflikt zwischen islamistischer Ideologie und Freiheit gab es genug westliche Stimmen, die sich auf die Seite Teherans schlugen.

Der britische Historiker Hugh Trevor-Roper spielte hier eine unrühmliche Rolle. In Deutschland war er als jener Experte bekannt, der die von Konrad Kujau gefälschten Hitler-Tagebücher als «zu 99,5 Prozent echt» bezeichnete. Aber es gab auch viele andere, die Gründe fanden, die Werte der Freiheit geringer zu schätzen als die Notwendigkeit, Verständnis für die kulturellen Empfindlichkeiten der Aggressoren zu entwickeln. Vieles an dieser Debatte aus dem vorigen Jahrhundert erinnert an die europäische Gegenwart des Jahres 2024.

Erstmals schreibt Rushdie in der ersten Person

Warum schlagen sich populistische Parteien und ihre Vordenker auf die Seite der russisch-iranischen Koalition? Was führte dazu, dass ein als Pragmatismus getarntes Zaudern zum Volkssport wurde, ein konsequenter Idealismus der Freiheit sich aber als Extremposition rechtfertigen muss? Warum fällt es Menschen so schwer, ihre Freiheit, Ergebnis der Kämpfe vieler Generationen vor uns, auch zu verteidigen? Oder wenigstens wertzuschätzen?

Von solchen geopolitischen und philosophischen Erörterungen ist der Protagonist des Buches zu Beginn dieser Geschichte weit entfernt. Zum ersten Mal schreibt Salman Rushdie hier in der ersten Person. Er beschäftigt sich viel mit dem Mann, der er am Abend vor dem Messerangriff war. Der sich in der Septembernacht am Mond erfreute und dann an den uralten Film von Georges Méliès dachte, die Reise zum Mond, als das Mondgesicht eine Rakete direkt ins rechte Auge bekommt. Er weiss da noch nicht, dass ihn in wenigen Stunden dasselbe Schicksal ereilen wird, nur eben mittels eines Messers.

Die Leserin und der Leser sehen also Salman Rushdie, einen glücklichen Mann von 75 Jahren, in der schönen Mondnacht auf dem Balkon vor seinem Hotelzimmer stehen und gönnen ihm dieses Glück. Möchten ihn vielleicht warnen, denn der Attentäter ist zu diesem Zeitpunkt schon auf dem Gelände des Festivals und schleicht unerkannt umher. Viele Attentate wurde seit Verkündung der Fatwa gegen Rushdie von den Behörden rechtzeitig aufgedeckt und verhindert. Dieses nicht. Ohne diese kriminelle Tat hätte Rushdie noch sein rechtes Auge und die volle Kontrolle über seine linke Hand. Und ohne diese kriminelle Tat gäbe es dieses Buch nicht.

Hätte er über das stille Glück einer mondbeschienenen Septembernacht geschrieben? Niemals. Salman Rushdie muss zur Glücksbeschreibung etwas ausholen, zu einem anderen Tag und tatsächlich zu einem anderen blutigen Unfall. Er lernte seine jetzige Ehefrau Eliza, eine Autorin und Fotografin, auf einer Party in New York kennen. Als sie gemeinsam zum ruhigeren Plaudern auf die Terrasse gehen wollen, übersieht Rushdie eine verschlossene Schiebetür und wird nun doppelt umgehauen, erst von der Frau, dann von der Tür. Seine Brille bricht, die Nase blutet, und Eliza begleitet ihn im Taxi nach Hause. Seit diesem Tag sind sie zusammen, verloben sich und heiraten.

Rushdie ist in Liebesdingen nicht naiv und hat – die Lektüre seines Memoirenbuchs «Joseph Anton» stiftet da deutliche Erkenntnisse – ehe- und beziehungstechnisch einiges hinter sich. Er kann es kaum fassen, wie schön das Leben mit seiner Eliza ist. Dieses schöne Leben wäre analog, dreidimensional und sogar privat geblieben, wenn es nicht durch das Attentat und dessen Folgen so dramatisch gefährdet worden wäre. Rushdie zitiert die Weisheit des französischen Schriftstellers Henry de Montherlant: «Das Glück schreibt mit weisser Tinte auf weisse Seiten.»

Rushdie sind seine Kilos peinlich

So gerät dieses Memoire zu einer Meditation über das teuflische Verhältnis von Geschichte und Leben. Was schreibt man auf, was nicht? Braucht das Glück auch das Böse, um zu einer Geschichte zu werden? Im Leben kann man gern darauf verzichten, aber in einem Buch? Wie mit der Lupe des Sherlock Holmes, ein Auge zugekniffen leider für immer, begibt sich der Autor dieser Icherzählung auf die Suche nach magischen Pfaden und Brücken aus Luft, die Text und Welt verbinden. Angenehm ist ihm das nicht.

Rushdie ist ein Atheist, ein Mann, der sich dem Studium des irdischen Lebens und der Literatur verschrieben hat. Priester und Propheten sind in seinem Werk, zuletzt in seinem umwerfenden Roman «Victory City», eine Mixtur aus Scharlatanen und Despoten. Und doch kommt es hier, in seiner Erfahrung wie in seinem Bericht darüber, zu schwer erklärbaren, wundervollen Szenen und Begebenheiten.

Nur wenige Sekunden dauert der Anschlag auf sein Leben. Der junge Mann sticht hierhin und dahin, in den Hals, das Auge, die Hand und noch an andere Stellen. Rushdie sinkt zu Boden, verliert das Bewusstsein, ohne es zu merken. Er denkt dann seltsame Sachen: «Murder rückwärts gelesen ergibt Red Rum – Red Rum hiess das Pferd, das dreimal den Grand-National-Hindernislauf gewann – 1973, 1974 und 1977.» Aber er hört auch etwas, eine innere Stimme, wie sie unserer Schulweisheit nicht ganz entspricht: «Lebe!, flüsterte es in mir. Lebe!»

So entdeckt er eine geheime Energiequelle, die die Lust am Leben und am Schreiben verbindet. Sie lässt ihn nicht los: Rushdie muss mit dem Hubschrauber abtransportiert werden und wird beim Verladen nach seinem Gewicht gefragt. Es ist ihm peinlich, denn er findet, er wiegt zu viel. «In den letzten Jahren war mein Gewicht geradezu explodiert, und ich wusste, ich sollte zwanzig oder dreissig Kilo abnehmen, nur war das eine Menge, und ich hatte mir keine besondere Mühe gegeben. Jetzt also musste ich für jeden in Hörweite die beschämende Zahl bekannt geben.» Es ist der Beginn einer langen Reise in die Welt der Kliniken und Arztpraxen, in der es keine Scham und keine Intimität gibt.

Er sieht fantastische Gebäude in Form von riesigen Buchstaben, Paläste und Kathedralen aus Text, und er kann sie drehen oder in ihnen spazieren gehen. Später erkennt er darin die Wirkung der hoch dosierten Schmerzmittel, auf die er zu Beginn angewiesen war, und doch wird jeder, der nur eine Zeile Rushdie gelesen hat, in der Beschreibung dieser Tagträume eine perfekte Illustration von Werk und Autor erkennen. In den Tagen und Wochen danach ist viel von Wundern die Rede: Wenige Millimeter nach links oder rechts, und die Messerstiche hätten zum Tode geführt. Ein eher pragmatischer Unfallarzt bemüht eine andere Erklärung: «Wissen Sie, was Ihr grösstes Glück war? Ihr grösstes Glück war, dass der Mann, der Sie angriff, keine Ahnung davon hat, wie man einen Menschen mit dem Messer umbringt.»

Den Attentäter straft Rushdie mit Desinteresse

Glück und Vorahnungen, Zeichen und Wunder – im Nachdenken über die Gewalt, die ihn heimgesucht hat, erforscht Rushdie sein eigenes Werk und seine Weltanschauung: «Vielleicht haben meine Bücher seit Jahrzehnten an jener Brücke gebaut, sodass das Wunderbare sie nun überqueren konnte. Das Magische wurde zum Realismus. Vielleicht haben meine Bücher mir das Leben gerettet.»

«A» wie abwesend ist der Täter. Rushdie lässt ihn nur mit diesem Initial, dem ersten Buchstaben des Alphabets, vorkommen, es auch ist die Abkürzung für das Schimpfwort Nummer eins. Kein Hass, keine Neugier auf seine Motive – der Fanatiker trifft hier auf mattes Desinteresse. Ganz so cool bleibt Rushdie ihm gegenüber aber nicht durchgehend, einmal lässt er sich am Gefängnis vorbeifahren, in dem der Mann mit dem Messer nun sitzt, und kann sich gerade noch bremsen, vor der Mauer ein Freudentänzchen aufzuführen.

Der Täter kommt weiter nicht vor, die titelgebende Tatwaffe auch nicht. Rushdie gibt vor, nicht zu wissen, ob es sich um ein Küchengerät, ein Campingutensil oder ein Militärmesser gehandelt hat. Es liest sich wie ein Trick: Wenn es nicht benannt wird, dann verschwindet es vielleicht im Reich der namenlosen Gewalt.

Die Islamisten aus dem Iran, die am Ursprung der Gewaltaufrufe gegen Rushdie stehen, sind heute die treuesten Verbündeten des russischen Präsidenten. Beide verüben und feiern Gewalt gegen Zivilisten und Symbole der Meinungsfreiheit wie Anna Politkowskaja oder Salman Rushdie. Was in der Ukraine, in Israel und auf der ganzen Welt zu verteidigen ist, daran erinnert auf meisterliche Weise dieses zärtliche, humorvolle und leider so politische Buch.