Saisonauftakt am Pfauen mit BrechtUnd sie bewegt uns doch, diese Jubiläumsinszenierung
Dem scheidenden Intendanten Nicolas Stemann ist exakt 80 Jahre nach der Uraufführung von Brechts «Leben des Galilei» eine härtere Variante gelungen. Cool.

Enttäuscht vom eigenen Verrat und angewidert vom inneren Schweinehund, wird sich dieser Galileo Galilei (Sebastian Rudolph) gegen Ende ganz vorne auf der Pfauenbühne hinhocken und (uns) allen entgegenwerfen: «Willkommen in der Gosse!» Er hat widerrufen, sich von der Inquisition buchstäblich in die Knie zwingen lassen, jede und jeder hätte das getan. Oder?
Galilei Nummer 2 gesellt sich jedenfalls zu ihm, gefolgt von Nummer 3 und Nummer 4. «Die anderen sind die Sieger», sekundieren diese Doppelgänger: Matthias Neukirch, Steven Sowah und Gottfried Breitfuss. Es hätten auch Alicia Aumüller, Karin Pfammatter oder Maximilian Reichert sein können. Denn in Nicolas Stemanns Inszenierung von Bertolt Brechts «Leben des Galilei» tauschen die sieben Schauspielenden immer mal wieder die Rollen, um sich dann, partiell oder gesamthaft, geschmeidig zu einer einzigen Stimme zu vereinen.
Alles ist fluid, aber eins steht fest: Die Gewinner des über dreistündigen Abends sind die Ensemblemitglieder sowie, als strahlender Special Guest, die junge Sängerin, Komponistin und Performerin Andrina Bollinger. Schon mit dem ersten Song – Brechts Auftakt für die erste Szene des epischen Dramas – spinnt sie ein filigranes Soundnetz, gefärbt von ihrem Stil zwischen Avantgarde-Pop und Jazz. «Galileo Galilei rechnete aus: Die Sonn’ steht still, die Erd’ kommt von der Stell’», wiederholt sie wie ein Mantra die Erkenntnis des grossen italienischen Astronomen und Mathematikers aus dem Jahr 1609.

Später explodiert das alte, ptolemäische, geozentrische Modell denn auch in tausend Teile. Die hängen spektakulär am leeren Bühnenhimmel des Pfauens, in dem kein Gott mehr wohnt: Fragmente einer fehlgegangenen Forschung, theologischer Verirrung.
Was daraufhin geschieht, ist bekannt. Der Kirche gefällt die neue Lehre überhaupt nicht. Bereits gegen Kopernikus’ Einsicht, dass die Erde nicht das Zentrum des Universums ist, lief sie Sturm. Der Druck auf Galileo wächst allmählich, ihm drohen finanzielle Verluste, soziale Ächtung, schliesslich die Folter. 1633 wird er in Rom von der heiligen Inquisition zum Widerruf verurteilt. Danach flieht er in die innere Emigration, stets überwacht von der Inquisition.
Bert Brecht hat daraus im Exil 1938 ein Stück geschaffen über einen, der versucht, die Wahrheit an der unwilligen Obrigkeit vorbeizuschummeln, einen, der sich anpasst, während er insgeheim an seinen Gewissheiten festhält – «und sie bewegt sich doch» –, und der an die Möglichkeit einer besseren, einer rational regierten Welt glaubt. Uraufführung war vor exakt 80 Jahren, am 9. September 1943 am Schauspielhaus Zürich.

Dem «Tages-Anzeiger» gefiel das damals sehr gut, Brecht selbst aber, der nicht für die Inszenierung zeichnete, weniger. «Allzu opportunistisch» sei die Aufführung, kritisierte er, zu einfühlsam; und er schrieb nach dem Atombombenabwurf für seine amerikanische Exilheimat eine neue Stückfassung – und Hanns Eisler dazu die Musik, die es jetzt ebenfalls zu hören gibt. «Hätte ich widerstanden, hätten die Naturwissenschaftler etwas wie den hippokratischen Eid entwickeln können, das Gelöbnis, ihr Wissen einzig zum Wohle der Menschheit anzuwenden», sagt sein neuer, hart desillusionierter Galileo.
Und Stemanns Galileos (Galileen?), allen voran Neukirch und später Breitfuss, sagen dies auch. Der scheidende Intendant des Schauspielhauses führt die Fassungen zusammen und ergänzt sie zudem unaufdringlich-naheliegend ums Thema der Klimakrise: noch so ein Wissen, das lang gern unter den Teppich gekehrt wurde. Subkutan wird auch die Corona-Leugnung gestreift.
Für diesen Ansatz hat der Regisseur eine Welt im Schwarzweiss einer unaufgeregten Dringlichkeit imaginiert. Seine Bühnenbildnerin, Jelena Nagorni, verpflanzt die Figuren mit dem Sternenglitzer auf den schwarzen Kleidern und den milchstrassenweissen Turnschuhen in ein leeres, dunkles, kühles All; sie liess sich, wie das Programmheft verrät, von der Kulisse der amerikanischen Erstaufführung inspirieren und von Brechts Wunsch nach mehr «planetarischen Demonstrationen».

Ein guter Mensch von Italien existiert nicht, Galileo opfert für sein Rechthabertum das Glück seiner Tochter (Aumüller), er seinerseits wird auf dem Altar der Aristokratie und des Grossbürgertums geopfert, die sich vor jeder Verschiebung im hierarchischen Gefüge fürchten. Richtig böse ist hier gleichfalls keiner, brutal bedürftig und blind jedoch irgendwie alle. Zappenduster ist das. Und dass Stemann Brechts zukunftsgerichtete Botschaft, «hütet nun ihr der Wissenschaften Licht / Nutzt es und missbraucht es nicht», ganz an den Schluss geschoben hat, mutet ironisch angekränkelt an.
Und sie bewegt uns doch, diese Jubiläumsinszenierung: In all das Schwarz und Weiss zaubert das Ensemble so viel Farben, Töne und Tänze, in den ganzen wütenden Untergang so viel Willen zum Widerstand und, ja, auch Witz, dass man selbst während der dritten Wiederholung eines Monologs die meiste Zeit dranbleibt. Nicolas Stemann hatte keine Angst, zu langweilen, und hat den gewaltigen Stoffstrom einfach fliessen lassen. Wir trudeln mit.
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