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Theater Spektakel
Was für ein Auftakt!

Volle Power geben angesichts des Todes: Der Schlagzeuger in Miet Warlops «One Song».

Auf dem Heimweg, nach der Aufführung, flog mein Velo wie von selbst durch die Nacht, als sei es auf Speed: Der «Stoff» dafür kam aus Belgien und heisst «One Song». Was für ein Auftakt zum Theater Spektakel 2023! Oder besser: was für eine Seebühnen-Eröffnung! Schliesslich gabs eine Menge zu sehen an dem lauen Donnerstagabend auf der Zürcher Landiwiese und zudem einen grossen zeitgenössischen Zirkus in der Werft.

Jedenfalls hat Miet Warlops Arbeit, die bereits 2022 bei ihrer Uraufführung in Avignon die Zuschauenden zum Toben brachte, auch in Zürich den Geist des Publikums rein in den Flow und seinen Puls nach oben getrieben. Wie den ihrer rund ein Dutzend Performerinnen und Performer.

So geht auf einer einfachen Holztribüne eine Handvoll Sportfans in die Vollen, angespornt von einem derwischartigen Cheerleader und aufgepeitscht von einer dreibeinigen, irrwitzigen Kommentatorin mit Lautsprecher, die den Sound der Massenhysterie moduliert, ohne dass man mehr verstünde als einzelne Wörter. Dazu legen fünf Musizierende auf dem Spielfeld eine etwas andere Sportsession hin: Das Metronom tickt, und die Geigerin zeigt auf einem Schwebebalken akkurate Gymnastik, während sie ihren Geigenbogen zieht.

Der Keyboarder seinerseits hüpft für jeden Tastenanschlag von einem Sprungbrett in die Höhe, weil das Instrument an der obersten Sprosse einer Sprossenwand hängt. Der Schlagzeuger wiederum hastet von Instrument zu Instrument, denn diese sind über die ganze Breite der Bühne verteilt. Der auf dem Rücken liegende Bassist muss für jedes Zupfen ein Sit-up hinkriegen, und der Sänger intoniert, auf einem Laufband rennend, Miet Warlops Text über das Leben, über Tod und Trauer.

Brutal exakt und verschwitzt: die Geigerin im «Song» des Menschen über das ewige «Weiter».

Dieser basiert auf einem Stück, das die heute 45-jährige Künstlerin 2005 nach dem Tod ihres Bruders geschaffen hatte. Mit der Zeile «Run for your life till you die» startet der einstündige Hindernisparcours, und prompt erscheint die Hürde: «Knock knock Who’s there? It’s your grief from the past» (Wer ist da? Deine Trauer aus der Vergangenheit.) Das Leben wirft dem Menschen Brocken in den Weg, doch der macht weiter. Und weiter. Bis er nicht mehr weitermacht.

Zwischendurch wollen die Musizierenden Luft holen, Wasser trinken und das Metronom des Rattenrennens auf Langsam stellen. Sie stehlen sich Auszeiten, aber ihre gnadenlosen Fans mit den beschrifteten Schals («schneller, höher, stärker», «now, now, now», «sans peur!», «shut up!») beschimpfen sie, treiben sie an, und schon wird der Song noch einen Zacken lauter und geschwinder wiederholt.

Rennen, bis die Bretter schwitzen und die Trauer sich verflüssigt, als Wasser von der Decke auf die Bühne rinnt, vom Himmel auf die Erde: «Grief is like a liquid and it never goes away» (Trauer ist wie eine Flüssigkeit und verschwindet nie). Miet Warlop, von Haus aus bildende Künstlerin, hat eine Messe über die Grausamkeit des Lebens und die Resilienz des Menschen geschaffen. Dieser ist ein Sisyphus, blind für die existenzielle Sinnlosigkeit, ein Hamster, angesichts seiner Endlichkeit unermüdlich im Rad kreisend.

«Now now now» steht auf dem Schal: Getrieben im Strudel, strampelnd im Jetzt, sind wir alle, egal, ob im Rampenlicht oder nicht.

Alle stimmen ihn an, den Song über das ewige Strudeln, Strampeln und Streben, die Stars und die Bewunderer auf der Tribüne (und wir) – allem Schmerz zum Trotz. So steckt in dem Lied, das hier auf Ohrstöpselstärke anschwillt und dessen hart getrommelter Rhythmus die Zuschauerplätze erschüttert, auch das Potenzial zur Einheit, zur Gemeinschaft aller Kämpfenden, Trauernden.

Den Anstoss für das Werk gab übrigens der Schweizer Milo Rau, damals Intendant des NTGent, der Miet Warlop mit einer Folge für die Serie «Histoire(s) du théâtre» betraute – es sei ihm gedankt. Und jetzt: weiterlaufen. Direkt ans Theater Spektakel.

Weitere Aufführungen: 18./19. August. Zudem zeigt Miet Warlop das Familienstück «After All Springville»: 30. August, 1./2. September.