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Theaterkritik: Saisonauftakt im Schiffbau
Wenn die Deutschaufgabe einen Maturanden zum Voyeur macht

Ist er «nur» Voyeur oder auch Manipulator (Otto Kosok)? Juan Mayorgas Stück «Der Junge aus der letzten Reihe», mit dem die Saison am Schiffbau startet, ist ein Vexierspiel mit Serien-Groove.

Wir sind bereits gepackt von der Kammerspiel-Komödiantik, den Wortgefechten von Juan Mayorgas Well-Made-Play, als uns dämmert, dass in dem scheinbaren Verschnitt aus «Unser Lehrer Doktor Specht» und «Dead Poets Society» mehr steckt: ein metafiktional aufgerüstetes Sozialdrama, in dem das Bühnengeschehen von den Figuren selbst in Frage gestellt wird. Anders gesagt: «Der Junge aus der letzten Reihe» (2006) des vielfach preisgekrönten Madrider Dramatikers ist ein flockiges Schattenboxen an allen postmodernen Fronten.

Da entdeckt also ein frustrierter Deutschlehrer – der sich in Gestalt von Daniel Lommatzsch so richtig suhlt in seinem Verpasstes-Leben-Jammer und ausgestattet ist mit den klassischen Attributen Weinglas und Cordhose – in seiner Abschlussklasse einen widerspenstigen, aber literarisch hochbegabten Schüler (ebenfalls hochbegabt: der junge Schauspielamateur Otto Kosok). Dieser lebt in einem schlechten Viertel allein mit krankem Vater und beginnt, dem Klassenkameraden Rafa, für den Geld kein Thema ist, Mathe-Nachhilfe zu geben.

In seinen Aufsätzen für den Deutschlehrer beschreibt der hoffnungsvolle Jungautor in trockenen Worten Rafas Mittelschichtsidylle und, zunehmend, auch ihre Risse. Ist er ein protokollierender Voyeur, oder denkt er sich alles bloss aus, oder manipuliert er mit seinem Schreiben gar Rafas Realität? Wer ist hier der Strippenzieher? Der anfangs begeisterte Lehrer skizziert seinem Zögling Schreibtipps auf den tafelgrünen Boden der Schiffbaubox, obwohl seine Frau (Tabita Johannes) ihn vor der ungesunden Obsession des Buben warnt.

Schulkollege Rafa (Silas Glanzmann) auf dem tafelgrünen Boden: Wird er das Schuljahr bestehen?

So entsteht buchstäblich auf den Theaterbrettern wie auch im Schulheft die Geschichte, die wir gerade sehen – und wir sitzen mitten in Rafas gutbürgerlichem Haushalt, denn die brasilianische Regisseurin Christiane Jatahy hat uns ins Bühnen-Ei hineingeschmuggelt. Die Zuschauerreihen sind als Ellipse rund um die Spielfläche angeordnet, und hinter uns ragen die weissen Wände der Zimmer auf, auf denen sich zart die Konturen von Paul-Klee-Engeln abzeichnen; geschaffen wurde dieses intime, gleichzeitig supereinfache und superraffinierte Setting von Bühnenbildner und Lichtdesigner Thomas Walgrave. 

Manchmal wird hinter unseren Rücken gespielt, dann wieder vor uns, die Blickachsen ändern sich. Der alte Fernseher wird hin- und hergedreht, verwandelt die Perspektiven, und die sechs Schauspielenden finden sich in unterschiedlichen Paarkonstellationen wieder, reflektieren dabei den Fortschritt der «Serie». Der eifrige Schüler beendet schliesslich jeden Aufsatz mit dem Satz «Fortsetzung folgt».

Und wir folgen, trotz des etwas repetitiv durchgeführten ästhetischen Konzepts, insgesamt gern mit, denn Mayorga hat uns am küchenpsychologischen Haken: Wir beobachten, wie die Beziehung zwischen Rafas Vater – Thomas Wodianka als Möchtegern-Macho – und Rafas Mutter – Lena Schwarz als sensible Studienabbrecherin, die sich in Wohnungsverschönerungsträume rettet – in die Brüche geht. Der Lehrer und seine Frau dagegen, eine erfolglose Galeristin, nähern sich einander vorsichtig wieder an. Allen vier gemeinsam ist die Midlife-Crisis, aus der sie der spanische Dramatiker nicht entlässt.

Als Saisonauftakt präsentiert das Schauspielhaus Zürich ein Vexierspiel mit philosophischen Obertönen und TV-Serien-Groove. Es hätte zwar durchaus etwas kürzer und temporeicher gestaltet sein dürfen, aber zum Reingleiten ins Theaterjahr verleiht es uns doch den nötigen Schwung.