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Best of Mamablog: Soziale Schere
Reich, reicher, am reichsten!

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Unsere Bloggerinnen und Blogger sind in den Ferien. Daher publizieren wir heute diesen Beitrag vom 21. Juli 2022, der besonders viel zu reden gab.

Die Reichen unter sich: Mittelschichtfamilien werden zunehmend aus reicheren Wohnquartieren vertrieben.

In letzter Zeit haben wir zu Hause aussergewöhnlich oft über Geld gesprochen. Nicht, dass Geld bei unseren Kindern sonst kein Thema gewesen wäre. Im Gegenteil, es vergeht generell kaum ein Tag, an dem wir zumindest mit den beiden Grossen nicht in Form von TWINT-Dialogen kommunizieren. «Bitte 9,80 für Shawarma twinten – muss dringend was essen!» - «Han kei Sporttops meh, chasch 30 Franke für zwei neui twinte?» Und im Grunde können wir uns da sogar noch glücklich schätzen, denn immerhin werden bei uns noch Whatsapp-Nachrichten geschrieben. Wie ich aus anderen Familien mit Teenies vernehme, bekommen die meisten Eltern gleich direkt die Zahlungsaufforderung zugestellt.  

Unverschämt reich

Ich meine allerdings nicht diese Art von Dialogen. Vielmehr geht es um den Begriff Reichtum als solcher, der jüngst an unserem Esstisch häufiger auftauchte. Konkret: Um Menschen mit richtig viel Schotter; von denen es hierzulande bekanntlich so einige gibt. «Noch nie haben Menschen so viel Privatvermögen angehäuft wie im 2021», konnte man aus zahlreichen Medienberichten erfahren.

473 Billionen US Dollar waren es, um genau zu sein – oder, falls Sie sich darunter mehr vorstellen können: 473'000 Milliarden Dollar oder 473'000'000'000'000 Dollar; das entspricht einer Wachstumssteigerung von 10,3 Prozent – der stärksten seit 20 Jahren. Rund die Hälfte davon liegt in den Händen von einem Prozent der Weltbevölkerung. 99 Prozent teilen sich die andere Hälfte – und dies auch nicht wirklich sehr ausgeglichen. 

Ungerechter Zugang zu Bildung

Das ist nichts Neues, würden wohl viele sagen. Oder: Ungleichheit ist nun mal menschlich. Unsere Tochter scheint das hingegen anders zu sehen: «Warum können reiche Leute ihren Kindern eigentlich das Gymi erkaufen? Zuerst gehen sie in die teuren Kurse, die sie auf die Prüfung vorbereiten. Und wenn sie trotzdem durchfallen, kommen sie halt in eine Privatschule und machen dort die Matura. Das ist doch unfair?» – Total. Und sinnlos noch dazu.

Denn kann es für unsere Gesellschaft tatsächlich richtig sein, wenn sich reiche Schülerinnen und Schüler durch die Mittelschule und die Uni schleppen, um am Ende in einem Job zu landen, für den sie gar nicht unbedingt qualifiziert sind? Währenddessen viele eigentlich kluge Köpfe aus einem tieferen soziokulturellen Milieu ein Gymnasium gar nicht erst in Betracht ziehen und so Potenzial verloren geht?

Von wegen faire Bildungschancen: Wenn es mit der Gymiprüfung nicht klappt, gibts ja noch die Privatschule.

Die Professorin und Lernforscherin Elsbeth Stern von der ETH Zürich hat darauf in einem Interview eine klare Antwort gefunden: «Die Schweiz kann sich den Luxus der tiefen Maturandenquote nur leisten, weil sie fehlende Akademiker im Bedarfsfall aus dem Ausland holen kann.» Fokussiert auf den Zugang zu Bildung, hat Stern gemeinsam mit ihrem Team etwa herausgefunden: Wenn man zur oberen soziokulturellen Hälfte der Gesellschaft gehört, ist die Chance viermal so gross, bei gleicher Intelligenz aufs Gymnasium zu kommen, wie wenn man zur unteren Hälfte gehört. Chancengerechtigkeit sieht anders aus. 

Verdrängung aus Wohnquartieren 

«Wir sind doch ohnehin nur Nummern», meinte der Grosse kürzlich beim Abendessen, um nachzuladen: «Ich will einfach verdammt reich werden!» – Ich hörte mich Dinge sagen, wie «Jammern auf hohem Niveau» oder «Geld macht nicht glücklich», die von einer zerkratzten Vinylplatte stammen könnten. Immerhin, entgegnete er, bestünde als reicher Mensch in dieser Stadt die Möglichkeit zu wohnen, wo man will. Mit «dieser Stadt» meinte er Zürich. Meinem Ältesten schien mit seinen achtzehn Jahren bereits klar geworden zu sein, dass die Frage, wie und wo wir wohnen, eng mit unserer Klassendisposition zusammenhängt. Dass in der Limmatstadt schon länger ein erbitterter Kampf um bezahlbaren Wohnraum herrscht, konnten wir als fünfköpfige Familie schon mehrfach am eigenen Portemonnaie erfahren. Mittlerweile seit über 25 Jahren in der Stadt ansässig, mussten wir aufgrund astronomisch steigender Mietpreise schon mehrfach den Wohnsitz wechseln, jüngst aus einem einst wegen der nahen Drogenszene verpönten Kreis hinaus an den Stadtrand. Im neuen Quartier gelandet, wurde allerdings schnell klar, dass die Mietpreiskurve auch hier keine Waagrechte darstellt. Und der Erwerb von Eigenheim auch hier nur privilegierten Vorerben vorbehalten ist. 

Ungerechter Zugang zu Bildung, Verdrängung aus Wohnquartieren: Das sind nur zwei der augenscheinlichsten Begleiterscheinungen von Klassismus, einer Diskriminierungsform, die derzeit nicht nur meine Kinder beschäftigt; auch wenn sie das Wort so vermutlich (noch) nicht kennen dürften.

Gleichwohl erlebt der Begriff gerade Hochkonjunktur – und dies nicht nur in lautstark geführten Insider-Diskussionen auf Twitter: Es werden Politgruppen zu Klassismus gebildet, Forschungsarbeiten geschrieben, Vorträge und Workshops gehalten oder dem Thema Bücher gewidmet. Die Frage, wann Reichtum für eine Gesellschaft zum echten Problem wird, scheint unsere Gemüter also gerade richtig zu bewegen. Zu Recht, wie ich finde. Denn die Schere zwischen den soziokulturellen Schichten öffnet sich weiter – und die steigende Inflation wird in den nächsten Monaten kaum was daran ändern. Im Gegenteil.