Rad-WM in ZürichDer Sieger fährt «blind», die Siegerin hört auf
Am Sechseläutenplatz jubeln mit Grace Brown und Remco Evenepoel die Gleichen wie bei Olympia in Paris. Der Schweizer Trumpf Stefan Küng bleibt chancenlos.
Der Sonntag mit den Elite-Zeitfahren ist der erwartete erste Höhepunkt dieser Titelkämpfe. Die Velofans sind sich dessen bewusst und kommen in Scharen. Natürlich stehen sie im Zielraum, wobei es in der ticketpflichtigen Zone auf dem Sechseläutenplatz sehr luftig bleibt. Aber die Fans stellen sich, zum Teil in mehreren Reihen, entlang der Zeitfahr-Route auf. Und am Start auf der Offenen Rennbahn in Oerlikon. Und besonders am höchsten Punkt in Chrüzlen am Pfannenstiel, wo die Stimmung am einzigen echten Anstieg enthusiastisch bis ausgelassen ist.
Sie alle würden am liebsten die einheimischen Athletinnen und Athleten zu Medaillen schreien. Das klappt mal so, mal so. Im Frauenrennen wird Elena Hartmann 13. und Jasmin Liechti 20. Weil Letztere aber erst 21-jährig ist, kommt sie auch in die U-23-Wertung. Dort ist nur eine Konkurrentin schneller, die Bernerin gewinnt Silber. Die Elitekonkurrenz entscheidet Grace Brown für sich. Die 32-jährige Australierin hält hinterher fest, dass nach dem Zeitfahr-Olympiasieg in Paris auch dieser WM-Titel sie nicht davon abhalten werde, Ende Saison auf dem Karrierehöhepunkt zurückzutreten.
Am späten Nachmittag feuern die Schweizer Fans die beiden Stefans an, Bissegger und Küng. Vergeblich, wie sich bald zeigt. Bissegger ist am Ende einer langen Saison nicht mehr zu einem Spitzenplatz fähig und wird 29. Küng, mit Medaillenhoffnungen gestartet, muss diese spätestens auf dem höchsten Punkt der Strecke begraben, zu viel Zeit hat er im Aufstieg verloren. «Bergauf fühlte es sich an, als würden meine Beine einschlafen», sagt er später.
Küng kein Überflieger
Zwar holt Küng in der Abfahrt hinunter zum Zürichsee nochmals etwas auf, aber zum Ziel hin verliert er erneut Zeit und wird Achter. Wie bei Olympia – mit dem Unterschied, dass ihn dort ein Magen-Darm-Virus bremste. Entsprechend überrascht es, wie nüchtern er die Niederlage hinnimmt. «Seit dem Beginn meiner Karriere werde ich mit Fabian Cancellara verglichen. Der kam zu Titelkämpfen – und lieferte eigentlich immer ab. Ich bin vielleicht eher ein Normalsterblicher als ein Überflieger wie er. Dann gibt es eben auch Tage, wo man menschlich ist. Darum bin ich auch nicht sonderlich enttäuscht», sagt Küng.
Wie bei Bissegger dringt aber auch bei Küng durch, dass die Energiereserven zum Saisonfinale hin nicht mehr allzu gross sind. Auch deshalb sinniert er, ob er in den letzten Tagen im Training vielleicht zu viel gewollt habe, statt diese Körner fürs Rennen aufzusparen. Klar ist dann auch sein Plan für die kommenden Tage: «Heimgehen, erholen und am Sonntag noch einmal angreifen.»
Diesen würde wohl auch Remco Evenepoel unterschreiben, mit dem Unterschied, dass sein Zuhause nicht nur eine kurze Autofahrt in den Thurgau entfernt ist. Der Belgier verteidigt auf dominante Weise seinen WM-Titel, bei Frauen und Männern siegen damit dieselben wie bei Olympia in Paris.
Und das, obwohl bei Evenepoel einiges nicht rundläuft: Als er auf der Startrampe bereitsteht und in die Pedalen einklicken will, fällt seine Kette raus. Als die wieder drin ist, sind es keine 30 Sekunden mehr bis zum Startzeichen.
Kritik an der steilen Abfahrt
Und als er dann losfährt, realisiert er, dass sein Wattmesser kein Signal an den Velocomputer übermittelt. Was gerade für ihn ein mittleres Desaster ist. «Ich halte mich im Zeitfahren sehr stark an die Wattzahlen, die ich mir für die einzelnen Abschnitte vorgenommen habe», sagt er. So fährt er quasi «blind» den Greifensee entlang – langsamer macht es ihn nicht. Auf den ersten drei von vier Streckenabschnitten ist keiner schneller als er. Erst zum Ziel hin kommt der Italiener Filippo Ganna noch auf und bis auf sechs Sekunden heran.
Der Weltmeister 2020 und 2021, schon im Vorjahr von Evenepoel knapp bezwungen, streicht dann trotzdem einen positiven Aspekt heraus: Neben ihm sitzt als Bronzegewinner sein Zimmerkollege Edoardo Affini. Die beiden Italiener sind sich auch in ihrer Kritik an der steilen Abfahrt hinunter nach Meilen einig. «Da hätte es bestimmt eine besser geeignete Strasse gegeben», sagt Affini.
Ob sie zusammen wohl eine Option wären für die Tandem-Para-Konkurrenz, die am Montag auf demselben Parcours stattfinde, werden sie zum Schluss scherzhaft noch gefragt. «160 Kilogramm dort den Berg hinunter? Ich weiss nicht, ob das eine gute Idee wäre», sagt Affini, «höchstens mit je zwei Bremsen pro Rad.»
Trinidad und Tobago nach 20 Fahrerinnen vorne
Teniel Campbell führt die Rangliste nach 20 Fahrerinnen an. Sie hat das Ziel in 42:45.15 Minuten erreicht. Hinter ihr klassiert sind die Slowenin Eugenia Bujak und die Estin Laura Sander.
Die erste Schweizerin ist unterwegs: Jasmin Liechti, 21 Jahre alt.
Fünf Startorte und eine Premiere
Die diesjährige WM ist eine Premiere, denn zum ersten Mal küren die Parasportlerinnen und -sportler am selben Ort ihren Weltmeister wie die Radstars ohne Beeinträchtigungen. Lesen Sie hier mehr zum historischen Auftakt von Samstag.
Die Ziellinie ist also für alle Rennen dieselbe. Das gilt allerdings nicht für den Startort. Davon gibt es fünf: In Gossau geht es heute für die Frauen los. Dort startet das Zeitfahren der Para-Kategorien B und C4 – 5 und der Elite-Frauen. Von der offenen Rennbahn in Oerlikon starten die Männer ihr Zeitfahren. Einige Rennen starten im Lauf der Woche hier in Zürich und andere in Uster oder Winterthur.
Menschen am Streckenrand
Public Viewing am Bürkliplatz. Noch ist der Zuschaueraufmarsch überschaubar.
Dafür ist am Ziel beim Bellevue schon mächtig was los.
Wenns oben nicht geht, guckt man eben unten durch.
So sieht die Zeitfahrstrecke aus
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Power-Test made by ETH
Wie viel Power bekommt man bei Vollgas auf Rädern hin? Die ETH macht den Test beim Bürkliplatz und die Teilnehmenden geben alles. (tif)
Gold für Franziska Matile-Dörig im Paracycling
Die Appenzellerin Franziska Matile-Dörig gewinnt im Para-Zeitfahren Gold in der Kategorie C4. Es ist die zweite Medaille für Matile-Dörig an Grossanlässen in wenigen Wochen: In Paris an den Paralympics hatte sie ebenfalls im Zeitfahren Bronze gewonnen. 2023 wurde sie zudem Zeitfahr-Europameisterin.
Die letzten Meter beschreibt die neue Weltmeisterin sinngemäss so: «Ich hatte den Coach im Ohr. Er sagte mit: ‹Was du jetzt in die Pedalen bringst, entscheidet darüber, ob du mit einem Weltmeistertrikot nach hause gehst oder nicht.› Ich habe nur noch gepusht und gepusht, geatmet und gepusht. Unglaublich, dass es aufgegangen ist.»
So geht Einzelzeitfahren
Der Schweizer Stefan Küng gehört zu den Mit-Favoriten, wenn die Männer ab 14.45 Uhr ihr Einzelzeitfahren absolvieren. Der 30-Jährige erklärt uns, was Zeitfahren eigentlich ist. Er sagt: «Für einen Normalsterblichen wäre das, wie neu Velofahren zu lernen.»
👉 Hier geht es zum Erklärstück mit dem Titel: «Du bist wie in Trance, kannst dir selber so viele Schmerzen zufügen, ohne dich zu verletzen.»
Heute erwarten Sie diese Rennen
10 Uhr: Einzelzeitfahren, Para-Cycling Frauen B und C4-5 über 29,9 Kilometer mit Start in Gossau ZH und Ziel auf dem Sechseläutenplatz. In den Schweizer Farben tritt Franziska Matile-Dörig an.
12 Uhr: Einzelzeitfahren Frauen über 29,9 Kilometer von Gossau ZH nach Zürich auf den Sechseläutenplatz. Für die Schweiz am Start sind Elena Hartmann und als U-23-Fahrerin Jasmin Liechti.
14.45 Uhr: Einzelzeitfahren Männer über 46,1 Kilometer mit Start auf der offenen Rennbahn Oerlikon und Ziel auf dem Sechseläutenplatz. Die Schweizer Teilnehmer sind Stefan Küng und Stefan Bissegger.
Willkommen an der Rad-WM in Zürich!
Die ganz grossen Namen der Radsportwelt werden heute am Sechseläutenplatz erwartet und wir liefern Ihnen nicht nur die Resultate der Rennen, sondern liefern immer wieder Anekdoten, Impressionen oder Wissenswertes zum Rennsonntag in Zürich.
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