Putins Krieg gegen die FrauenEine Kultur der Gewalt – tief verwurzelt in der russischen Gesellschaft
Die finnisch-estnische Schriftstellerin Sofi Oksanen zeichnet die Tradition Russlands als Kolonialmacht nach, analysiert den systematischen Einsatz sexueller Gewalt – und liest dem Westen die Leviten.
![Die finnisch-estnische Autorin Sofi Oksanen hat viele Mitglieder ihrer Familie durch Verbrechen sowjetischer Besatzer verloren.](https://cdn.unitycms.io/images/51f-24wT4VqBJPeHl3Rsqa.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=WDH1Hn1jhbQ)
Wer derzeit die baltischen Länder bereist, dem fallen überall im öffentlichen Raum Solidaritätsbekundungen für die Ukraine auf: blau-gelbe Fahnen, Plakate, Spruchbänder, Putin-Karikaturen oder -Totenköpfe. Die Esten, Letten und Litauer wissen, was den Ukrainern in den russisch besetzten Gebieten widerfährt, was den noch nicht besetzten droht: Russifizierung, Folter, Vergewaltigungen, Deportationen, Exekutionen.
Sie haben genau das erlebt, als 1940 sowjetische Truppen das Land besetzten. Allein Estland verlor damals ein Viertel seiner Bevölkerung.
Sofi Oksanen, finnisch-estnische Autorin, hat viele Mitglieder ihrer mütterlichen Familie durch die Verbrechen der sowjetischen Besatzer verloren. Ihre Grosstante, so beginnt sie ihren Essay «Putins Krieg gegen die Frauen», wurde zu Beginn der Okkupation zu einem Verhör abgeholt, das die ganze Nacht andauerte, und hat danach nie wieder gesprochen. «Sie heiratete nicht, bekam keine Kinder, traf sich mit niemandem», schreibt Sofi Oksanen. Auch wenn sie weiterlebte, ihr Leben war zerstört.
Diese Grosstante kehrt im Verlauf des Buches immer wieder. Es ist der persönliche rote Faden in einem durchaus sachlich-analytischen Werk, das zwei Stränge durchzieht. Der erste: Sexuelle Gewalt ist nicht etwas, das «halt passiert» im Krieg, weil Männer eben triebhaft sind. Sie wird von Russland systematisch eingesetzt, um die Ukrainer zu demoralisieren. Der zweite: Russland ist ein imperialistischer Staat, ein Kolonialstaat, und steht darin in einer Tradition, die das Zarenreich pflegte, die Sowjetunion fortsetzte und Putin weiterführt. Der Westen, so Sofi Oksanens Vorwurf, hat diesen Charakter Russlands verkannt, er hätte es besser wissen können, zumal ihm die leidvollen Erfahrungen der Osteuropäer zur Verfügung standen.
Das Buch führt die Verbrechen Russlands vor
Kolonien verbindet man immer mit Übersee. Dabei hat, als Portugal, Spanien, Frankreich und England sich Land in Amerika, Afrika und Asien holten, Russland sich die riesigen sibirischen Gebiete angeeignet, später den Kaukasus, Zentralasien, Finnland. Und auch die Krim war alles andere als «schon immer russisch». 1783 eroberten die Truppen Katharinas der Grossen das Khanat der Krimtataren, 1944 deportierte Stalin die gesamte tatarische Bevölkerung. Die Abtretung der Krim an die Ukrainische SSR 1954 war kein «Geschenk» Chruschtschows, schreibt Sofi Oksanen, sondern eine Rettungsaktion für eine nach der Deportation am Boden liegende Provinz.
Russifizierung und Deportationen erleiden jetzt die Bewohner der besetzten Gebiete in der Ukraine: Zwei Millionen Ukrainer sind bereits nach Russland deportiert worden, darunter 60’000 Kinder. Und in den besetzten Gebieten gelten die Gesetze der Russischen Föderation; so wie seit der Verfassungsänderung von 2020 es das Recht Russlands ist, die Interessen von Russen auch ausserhalb der Landesgrenzen zu vertreten – eine Vorab-Legitimierung künftiger Aggressionen.
Dass Sofi Oksanen keine blinde Anhängerin der Ukraine ist, hat sie mit ihrem letzten Roman «Hundepark» bewiesen, in dem sie die Geschäftemacherei mit Eizellen und Leihmutterschaft, die grassierende Korruption sowie die geradezu obszönen Unterschiede der Lebensverhältnisse angeprangert hat. In diesem Buch geht es aber ausschliesslich darum, die Verbrechen Russlands vorzuführen; historisch hergeleitet und in jedem Einzelfall mit Quellen belegt.
Der Westen soll aufwachen
Auch in Fällen der sexuellen Gewalt. Die Autorin zitiert sogar die Namen von Soldaten und ihrer Ehefrauen, deren Telefonate abgehört wurden. Da fragt ein Soldat, der gerade einen Kleiderschrank plündert, nach der passenden Körbchengrösse. Oder eine Frau gibt ihrem Mann ausdrücklich die Erlaubnis, ukrainische Frauen zu vergewaltigen, wenn er nur ein Kondom benütze. Mit solchen kaum erträglichen Passagen arbeitet Sofi Oksanen auch der Illusion entgegen, dies sei allein «Putins Krieg». Hass gegen Frauen, der Glaube an die Grösse Russlands, die alles rechtfertige, eine Kultur der Gewalt: All das sei tief verwurzelt in der russischen Gesellschaft.
Der massive Einsatz sexueller Gewalt als Waffe funktioniere deshalb, weil er von oben gedeckt sei. Und weil er straflos bleibe. Offiziere dulden Vergewaltigungen; diese finden zum Teil demonstrativ in der Öffentlichkeit statt; Vergewaltiger, mit Listen des Geheimdienstes ausgestattet, suchen gezielt Frauen und Töchter von Soldaten und Beamten aus. In Gefängnissen des Donbass werden gefangene Männer sexuell gefoltert, es gibt Fälle von Kastrationen. All dies hat einen übergeordneten Zweck: Terror zu verbreiten, die Gemeinschaft, die Gesellschaft zu brechen.
Sofi Oksanen ist es wichtig, den Einsatz von Sexualverbrechen als Waffe öffentlich zu machen. Es geht ihr aber auch darum, die Erfahrungen der Osteuropäer zu nutzen. Für die Esten sei der Zweite Weltkrieg nicht 1945 zu Ende gegangen, die Besatzung durch die Sowjetunion sei wie eine Fortsetzung gewesen: erneute Deportationen, forcierte Ansiedlung von Russen, Unterdrückung aller Zeichen der estnischen Kultur und der nationalen Vergangenheit. Auch deshalb wehen jetzt in Tallinn überall ukrainische Fahnen, ist die Unterstützung der Ukraine hier so stark: Weil man weiss, was auch ihnen wieder blühen könnte. Der Westen soll aufwachen: Auch das eine Botschaft dieses bewegenden, aufrüttelnden Buches.
![Sofi Oksanen: Putins Krieg gegen die Frauen. Aus dem Finnischen von Angela Plöger und Maximilian Murmann. Kiepenheuer & Witsch, 2024. 324 S., ca. 35 Fr.](https://cdn.unitycms.io/images/3VO6GGxp4DqA858WgAxixA.jpg?op=ocroped&val=1600,1067,1000,1000,0,0&sum=UJwDhcAzd8k)
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