PsychologieMenschen werden immer selbstverliebter? Falsch!
Seit Jahren hält sich der Mythos, dass der Narzissmus auf dem Vormarsch sei. Psychologen haben das in einer grossen Analyse überprüft und keine Belege dafür gefunden. Doch woher stammt die Legende?
![Unknown woman putting on golden crown, arrogance and privileged status, concept of self confidence in success, self-motivation and dreams to be best. Indoor studio shot isolated on pink background.](https://cdn.unitycms.io/images/Cdtdmw6PqLDAYuT5VNrVZd.jpg?op=ocroped&val=1200,800,1000,1000,0,0&sum=aUTNTmyDCBA)
Es geht bergab, stetig, unaufhaltsam. Die Wirtschaft, die Umwelt, der Zusammenhalt: Der Chor des Untergangs stimmt täglich düstere Hits an. Einer der Evergreens im Kanon dieser Trauerlieder ist der Abgesang auf die Jugend im Speziellen und die Menschen im Allgemeinen. Sittlich-moralisch schreite da ein schlimmer Charakterwandel voran, so die Klage, überall gerate die Menschlichkeit in die Defensive. Seit einigen Jahren singt der Chor des Untergangs nun gerne eine Melodie in Moll darüber, dass der Narzissmus auf dem Vormarsch sei.
Überall kreisten die Leute um sich selbst und bräuchten ihre Mitmenschen nur dazu, um sich bewundern zu lassen. Und es gibt auch wirklich viele aufmerksamkeitsgierige Pfauen und Pfauinnen, die sich ins Rampenlicht drängeln und der Zeitgeistdiagnose vom grassierenden Narzissmus Glaubwürdigkeit verleihen.
550’000 Probanden über 41 Jahre beobachtet
Aber haben sich die Menschen mehrheitlich tatsächlich in unguter Weise in sich selbst verliebt? Nein, sagen Sandra Oberleiter, Paul Stickel und Jakob Pietschnig von der Universität Wien. Gerade haben die Psychologen eine grosse Studie im «Journal of Personality» publiziert, die keine Hinweise auf eine zunehmend verschärfte Ich-Bezogenheit liefert. Die Analyse der Daten von fast 550’000 Probanden aus aller Welt zeigt für den Zeitraum von 1982 bis 2023 keinen Anstieg narzisstischer Tendenzen. «Wir haben nirgendwo einen Hinweis auf eine Zunahme finden können», sagt Pietschnig.
Stattdessen berichten die Psychologen, dass allenfalls ein geringfügiger Rückgang über den Untersuchungszeitraum zu beobachten sei. Im Durchschnitt schwäche sich der Hang zu übersteigerter Selbstherrlichkeit also eher ab – von wegen sittlich-moralischer Verfall an diesem charakterlichen Frontabschnitt.
Woher die Legende stammt
Die Legende von der wachsenden Selbstbesoffenheit ganzer Generationen basiert wesentlich auf einer Studie, die Psychologen um Jean Twenge 2008 ebenfalls im «Journal of Personality» publiziert haben. Die Ergebnisse deuteten auf einen Anstieg narzisstischer Tendenzen zwischen 1979 und 2006 hin. Allerdings hatten die Forscher lediglich US-Studenten untersucht, eine durchaus spezielle Personengruppe, deren Eigenheiten sich keinesfalls generalisieren lassen. Andere Wissenschaftler kritisierten Twenges Schlussfolgerungen kurz nach deren Veröffentlichung, auch da sie in eigenen Studien keine vergleichbaren Hinweise entdecken konnten. Dennoch fand Twenge mit populärwissenschaftlichen Büchern wie «Generation Me» («Generation Ich») oder «The Narcissism Epidemic» («Die Narzissmus-Epidemie») ein grosses Publikum für ihre These vom eskalierenden Tanz um das eigene Ich.
Die Meta-Analyse der Wiener Psychologen fügt sich nun in eine Reihe von Studien ein, die der Diagnose widersprechen und eher in die Gegenrichtung deuten. Aber warum werden Menschen weltweit offenbar tendenziell ein kleines bisschen weniger narzisstisch? Darüber lässt sich nur spekulieren. Eines aber bleibt sicher: Der Gesang vom charakterlichen Untergang wird nie verstummen. Schliesslich sind junge Menschen im Schnitt etwas narzisstischer als ältere, wie auch die Studie aus Wien wieder gezeigt hat, und über den Niedergang der Jugend singt es sich seit je am allerschönsten.
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