Psychologie des NarzissmusSind Narzissten die interessanteren Menschen?
Narzissten sind unerträglich, zerstören das Arbeitsklima, gehen über Leichen: Das ist Konsens. Psychologe Mitja Back, Autor von «Ich! Die Kraft des Narzissmus», sieht es differenzierter.
Wir treffen die charismatische Lena und den bodenständigen Ben. Lena streift mit ihrem «Super-Ego» durch die Wirtschaftswelt und träumt von Bewunderung und Erfolg. Ben dagegen geht lieber auf Nummer sicher, gibt als Lehrer sein Bestes und will einfach nur zurechtkommen. Wenn nun auf einer Skala von 0 bis 100 der Anteil gemessen wird, zu dem die beiden narzisstische Eigenschaften haben, ist der bei Lena hoch – ein Mensch mit einem ausgeprägten Ich. Ben hat einen besonders niedrigen Wert. Die meisten von uns befinden sich irgendwo in der Mitte.
Entwickelt hat dieses Mass des Narzissmus Mitja Back, der in Münster Professor für Persönlichkeitspsychologie ist. In zehn Fragen misst er den «Ich!-Score» von Teilnehmenden und Interessierten. Jetzt erscheint sein Buch zum Thema, mit dem er den Narzissmus von seinem schlechten Ruf zu befreien versucht. Er macht seine Forschungserkenntnisse darin leicht verständlich zugänglich und versucht zu beantworten, was Narzissmus eigentlich ist, ob ein hoher Narzissmus-Score ein schlechtes Zeichen ist, ob diese Eigenschaft mit Geschlechtsunterschieden korreliert und was überhaupt zu einem narzisstischen Ich führt.
Alle kennen vermeintliche Narzissten
In der von Individualismus und Selbstdarstellung in den sozialen Medien geprägten Gegenwart kommt der Begriff «Narzissmus» häufig als Schlagwort vor und scheint auf den jeweils bösen Boyfriend und die stressige Chefin immer gut zu passen. Seinen Namen hat der Narzissmus vom mythischen Narziss, der sich der Sage nach in sein Spiegelbild im Wasser verliebte und ertrank. Sigmund Freud sah in Narzissmus eine psychische Störung, und der Analytiker Heinz Kohut behandelte in seinen einschlägigen Arbeiten besonders den pathologischen Narzissmus.
Ist Narzissmus wirklich krankhaft, wie Kohut das sah? Man erreicht Mitja Back via Zoom, und der erste Eindruck ist: Er wirkt selbstbewusst und sicher. «Das, was wir so in der Öffentlichkeit über Narzissmus besprechen und hören, ist eigentlich komplett abgekoppelt von der Forschung zum Narzissmus», sagt er. Narzissmus sei keine psychische Krankheit, die uns ins Verderben stürze. Sondern vielmehr eine Facette unserer Persönlichkeit, die seit Jahrtausenden existiert: «Wir alle sind mehr oder weniger narzisstisch.» Narzissmus sei ein Spektrum, auf dem wir uns alle befinden.
«Von Narzissten redet man ja nicht nur bei Kanye West oder Donald Trump. Man ordnet auch Bekannte so ein.»
In seiner Forschung beschäftigt sich Mitja Back damit, wie sich Menschen im Erleben und Verhalten unterscheiden und wie diese Unterschiede messbar sind. Besonders interessiert habe ihn schon immer, wie Persönlichkeitseigenschaften soziale Beziehungen beeinflussen: «Von Narzissten redet man ja nicht nur, wenn es um Prominente geht, wie Kanye West oder Donald Trump. Man ordnet auch Bekannte so ein, Ex-Freunde und Familienmitglieder.» An Menschen mit hohem narzisstischen Anteil gebe es viele Facetten und Widersprüche zu entdecken. Narzissten interessieren sich oft wenig für andere, sind aber auf den Applaus und die Bewunderung der Menschen um sich herum angewiesen.
Back spricht von einer «faszinierenden Gratwanderung zwischen Selbstliebe und sozialer Anerkennung: Wenn das narzisstische Ich die Aufmerksamkeit seiner Umgebung nicht halten kann, wenn die Bewunderung abnimmt oder es coram publico auf die Nase fällt, kann der Narzisst krank werden. Erst dann entwickelt er eine narzisstische Persönlichkeitsstörung.»
Mit zunehmendem Alter sinkt die Neigung
Eine andere Frage ist die, ob der Hang zur Selbstliebe zunimmt in unserer Gesellschaft. Thomas de Maizière schimpfte im Juni dieses Jahres über die Anspruchshaltungen der Generation Z: «Mich ärgert, dass sie zu viel an sich denken und zu wenig an die Gesellschaft.» Es scheint, als werde die heute junge Generation als egoistischer wahrgenommen – als narzisstischer.
Mitja Back widerspricht: Jüngere Menschen tendierten naturgemäss stärker dazu, narzisstisch zu sein – das sei in jeder Generation erkennbar. Mit zunehmendem Alter sinke diese Neigung, der Fokus verschiebe sich auf Absicherung und engere soziale Beziehungen. Dass Narzissmus auf den relativ neuen Plattformen der sozialen Medien frei ausgelebt werden kann, ändere nichts daran, dass der «Ich!-Score» im Laufe des Lebens sinke. Es macht den Narzissmus der jüngeren Generation im Vergleich zur älteren nur sichtbarer.
Wenn also die narzisstische Lena und der unsichere Ben Backs Buch lesen, würden sie sich selbst erkennen? Und würden sie etwas an ihrem Verhalten ändern wollen? Back lächelt: «Wir können uns, obwohl wir eine Persönlichkeit haben, die relativ stabil ist, natürlich weiter verändern. Wir können neue Dinge ausprobieren, und das würde ich mir von den beiden wünschen. Dass sie immer mal wieder was Neues ausprobieren, was sie herausfordert. Und das heisst, dass Lena vielleicht mal versucht, sich ganz zurückzuhalten, einmal nur zuzuhören, und Ben vielleicht mal versucht, wirklich selbst etwas in die Hand zu nehmen und andere von sich zu begeistern.»
Jemand ist Narzisst oder eben nicht?
Mitja Backs «Ich! Die Kraft des Narzissmus» kann man auch als einen Wegweiser für Zwischenmenschliches verstehen. Leserinnen und Leser werden darin aufgefordert, selbst an einem Persönlichkeitstest teilzunehmen: Die zehn Fragen wirken auf den ersten Blick eher oberflächlich und allgemein, doch in Kombination mit dem Buch offenbaren sie sich als unverzichtbare Ergänzung. Anders als Persönlichkeitstests, die Menschen in Schubladen stecken, verfolgt Back hier eine andere Absicht: zu zeigen, dass sich Individualität nicht auf ein binäres Schema reduzieren lässt, nach dem jemand Narzisst ist – oder nicht. Vielmehr bewegen wir uns zwischen den Polen, eine Nuance, die Back im Buch, wie im Gespräch, einfühlsam zum Ausdruck bringt.
Auch die Frage nach seinem persönlichen «Ich!-Score» beantwortet er mit einem Lächeln: «Der ist nicht immer exakt gleich. Mir geht es aber wie vielen anderen auch. Ich kann bestimmte narzisstische Menschen verstehen, weil ich auch mal stolz bin, wenn ich etwas erreicht habe. Und gleichzeitig bin ich immer wieder überrascht, wenn ich einem waschechten Narzissten begegne, der wirklich denkt, er habe Besseres verdient.»
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