Arbeitspsychologe im Interview «Es sollte klar sein, dass Anrufe nach Feierabend ohne Absprache tabu sind»
Brauchen Arbeitnehmende im Homeoffice zusätzliche Freiheiten – oder mehr Schutz? Darüber streitet die Politik. Johann Weichbrodt plädiert für individuelle Lösungen.
Herr Weichbrodt, wenn ich um 7 Uhr morgens im Homeoffice zu arbeiten beginne, am Nachmittag joggen gehe, dann mit den Kindern zu Abend esse und um 21 nochmals etwas arbeite: Bin ich dann ein Glückspilz oder bemitleidenswert?
Wer seine Arbeit so frei einteilen kann, ist natürlich auf eine gewisse Weise privilegiert. Es gibt Menschen, denen es entgegenkommt, wenn sie ihren Tag so frei gestalten können. Aus der Forschung wissen wir aber auch, dass wir nicht immer die Dinge tun, die uns guttun. Manchmal kann eine grössere Freiheit dazu führen, dass wir zu viel arbeiten und unsere persönlichen Grenzen überschreiten.
Die Wirtschaftskommission des Nationalrats denkt darüber nach, das Arbeitsgesetz für gewisse Jobs zu lockern, damit die Arbeit im Homeoffice auf bis zu 17 Stunden verteilt werden kann. Eine gute Idee?
Aus arbeitspsychologischer Sicht gibt es keine eindeutige Antwort. In einer guten Arbeitskultur können zusätzliche Freiheiten eine feine Sache sein. Herrschen hingegen keine gesunden Strukturen vor, kann es sein, dass der Druck auf die Mitarbeitenden steigt, am Abend länger zu arbeiten. Zu beachten ist, dass das Arbeitsgesetz ja primär dem Schutz der Arbeitnehmenden dient. Es bietet heute schon eine gewisse Flexibilität. In meiner Arbeit mit den Unternehmen höre ich selten Klagen darüber, dass die gesetzlichen Regeln zu streng seien.
Gewerkschaften warnen davor, dass das Privatleben und die Arbeit immer stärker verwischen. Braucht es in Zeiten ständiger Erreichbarkeit neue Regeln, damit die Menschen am Abend nicht mit Mails, Anrufen oder Slack-Nachrichten behelligt werden?
Ich halte es für sinnvoll, solche Dinge auf Team-Ebene zu regeln. Wenn jemand regelmässig von 17 bis 19 Uhr mit den Kindern beschäftigt ist und in dieser Zeit keinesfalls gestört werden will, kann dies mit den Kolleginnen und Kollegen vereinbart werden. Dass Anrufe nach Feierabend – ohne eine solche Absprache – tabu sind, sollte eigentlich klar sein. Dafür braucht es kein neues Gesetz.
Sie führen seit Jahren Befragungen und Studien zum Thema Homeoffice durch. Welchen Trend sehen Sie für die kommenden Jahre?
Klar ist: Das Homeoffice wird nicht mehr verschwinden. Nach der Pandemie hat sich der Anteil der Personen, die zumindest hin und wieder mobil-flexibel arbeiten, auf hohem Niveau eingependelt. Verbreitet sind hybride Modelle, bei denen die Menschen an gewissen Tagen im Büro sind und an anderen zu Hause arbeiten. Unsere Befragungen zeigen, dass viele Menschen zufrieden sind mit diesem Zustand. Für einen Teil der Befragten ist die Möglichkeit, flexibel zu arbeiten, inzwischen auch ein relevantes Kriterium bei der Jobwahl. Aufseiten der Unternehmen beobachte ich eine Suche nach der optimalen Balance: Viele sind noch unsicher, ob sie die Angestellten während zwei, drei oder mehr Tagen im Büro haben wollen. Kaum jemand stellt das Konzept jedoch grundsätzlich infrage.
Umstritten ist, wie sich das Homeoffice auf die Produktivität auswirkt. Was ist hier der Forschungsstand?
Da gibt es tatsächlich widersprüchliche Erkenntnisse. Grob zusammengefasst kann man sagen: Viele Menschen können sich im Homeoffice besser konzentrieren, dadurch sind sie dort unter dem Strich produktiver. Geht es hingegen darum, in einer Gruppe Lösungen zu suchen, ist der persönliche Kontakt vorzuziehen. In diesem Bereich geht etwas verloren, wenn nur über die digitalen Kanäle kommuniziert wird.
Viele Unternehmen bauen Büroflächen ab – faktisch werden so gewisse Menschen ins Homeoffice gezwungen.
Meiner Beobachtung nach versuchen die meisten Firmen mit cleveren Ansätzen zu berechnen, wie viele Büroplätze sie in Zukunft brauchen. Oft gibt es neben einer gewissen Anzahl gut ausgestatteter Arbeitsplätze auch noch ein paar Tische, die notfalls genutzt werden können, wenn mehr Personen als üblich im Haus sind. Aber es ist schon so: Wenn es seitens eines Unternehmens die Erwartung gibt, dass die Angestellten an gewissen Tagen zu Hause arbeiten, kann dies je nach persönlicher Situation als unangenehm empfunden werden. Besser ist es, wenn alle so arbeiten können, wie sie es möchten.
Und was ist mit dem sozialen Kontakt? Dieser leidet doch zwangsläufig.
Meiner Meinung nach wird das Thema häufig zu schwarz-weiss diskutiert. Die Frage ist nicht, ob Homeoffice sinnvoll ist, sondern wie viel davon uns guttut. Wir müssen eine Balance finden zwischen dem notwendigen sozialen Austausch und dem individuellen Bedürfnis nach Freiheit. Mit diesen Feinheiten sind gerade viele Firmen beschäftigt. Am besten löst man diese Fragen im Team.
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