Prozess in der TürkeiDie Macht der öffentlichen Meinung
Die Anhörung von Ekrem Imamoglu am Freitag zeigt: Erdogan kann seinen Gegner auch im Gefängnis nicht stummschalten. Und er hat den Gegendruck der Menschen unterschätzt.

Was eine Autokratie ausmacht oder was sie verhindert, ist schwer zu fassen. Studierendenproteste wie derzeit in der Türkei werden einen Präsidenten, der seinen Herausforderer hat inhaftieren lassen, kaum beeindrucken. Andererseits aber scheint es in dem Land noch einen Faktor zu geben, auch wenn er vielleicht vage klingen mag: die Macht der öffentlichen Meinung. Ausserdem so etwas wie Linien, die auch der Staatschef bisher nicht überschritten hat. Weil er um das Risiko weiss, das er damit einginge.
Der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem Imamoglu wurde in keine Strafkolonie gebracht, wo man seinen Tod fürchten müsste. Er befindet sich in einem Gefängnis, wo er wohl ordentlich behandelt wird und Besuch von seiner Familie, von Anwälten und Parteifreunden bekommt.
Bei der Anhörung am Freitag konnte er eine politische Rede halten, die bei den Türkinnen und Türken ankam. Er sei in Haft, weil er drei Wahlen gewonnen habe. Gemeint sind die beiden Bürgermeisterwahlen von 2019 (den ersten Wahlsieg hatte ihm die Wahlbehörde damals aberkannt) und seinen erneuten Sieg im vergangenen Jahr. «Jemand» denke, «dass er Istanbul besitzt», erklärte Imamoglu ausserdem. Er nannte keinen Namen, doch jeder wusste, wen er meint.
Der Präsident hat sich übernommen
Imamoglu ist jetzt eine Art Stimme aus dem Off, die Recep Tayyip Erdogan verfolgt. Der hat Imamoglu verhaften lassen, stummschalten konnte er ihn nicht.
Erdogan hat sich schon mit Imamoglus Verhaftung übernommen, er hat die Reaktion unterschätzt. Der Gegendruck der Menschen verhindert, dass er noch weiter geht. In der vollendeten Autokratie könnte er Imamoglu isolieren lassen, in der Türkei indes hat er die Wahl: Belässt er ihn in Haft, hat er es mit einem Gegner zu tun, dessen Schicksal die Leute zum Widerstand motiviert. Oder er lässt ihn irgendwann frei. Dann hat er einen Nachfolger.
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