Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Stimmen von Protest gegen die AfD
«Ich fürchte, der Faschismus kann wiederkommen»

TOPSHOT - A participant holds up a heart-shaped placard reading 'Against the right wing' during a demonstration against racism and far right politics in front of the Reichstag building in Berlin, Germany on January 21, 2024. Tens of thousands of people were expected to turn out again on January 21 to protest against the far-right AfD, after it emerged that party members discussed mass deportation plans at a meeting of extremists. (Photo by CHRISTIAN MANG / AFP)
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Es wäre nicht Berlin, verliefe der Aufmarsch am Sonntagnachmittag nicht chaotisch: Der riesige Platz vor dem Reichstag füllt sich von allen Seiten, U- und S-Bahnen stehen still, weil so viele Menschen in die Wagen drängen. Die Polizei sperrt immer wieder Brücken über die Spree, um gefährliche Engpässe zu vermeiden. Schliesslich wird der Versammlungsraum in den Tiergarten hinein erweitert, damit alle Leute Platz finden.

100’000 Menschen seien zusammengekommen, erklärt die Polizei eine Stunde nach Beginn der Demonstration, hat aber wahrscheinlich selbst längst den Überblick verloren. Von 350’000 Menschen sprechen die Veranstalter. Ähnlich belebt wie in Berlin war es am Sonntag bereits in München gewesen, am Freitag in Hamburg: Es strömten viel mehr Menschen zusammen als erwartet, manche Kundgebungen mussten aus Sicherheitsgründen vorzeitig beendet werden.

So grosse Demos wie zuletzt in den 80er-Jahren

Zusammengezählt protestierten von Freitag bis Sonntag an 100 Demonstrationen im ganzen Land mindestens eine Million Menschen gegen die Alternative für Deutschland. So breit abgestützte politische Kundgebungen hat die Republik zuletzt vermutlich in der Friedensbewegung der 80er-Jahre gesehen.

BERLIN, GERMANY - JANUARY 21: (EDITORS NOTE: Image contains profanity.) People gather in front fo the Reichstag to protest against the far-right Alternative for Germany (AfD) political party on January 21, 2024 in Berlin, Germany. Hundreds of thousands of people have taken to the streets across Germany over the past week to protest against the AfD and for defending democracy following the recent revelation that high-ranking AfD members met with far-right extremists at a villa in Potsdam last November. According to the investigative media group Correctiv, whose members filmed and recorded portions of the gathering, politicians from the AfD, including AfD Bundestag parliamentarian Gerrit Huy as well as Roland Hartwig, a now former advisor to AfD co-leader Alice Weidel, and the German Christian Democrats (CDU)-linked Werteunion met with far-right extremists, including Austrian far-right activist Martin Sellner, and supporters of far-right causes, including Hans-Christian Limmer, founder of the Backwerk nationwide bakery chain. Participants at the meeting reportedly discussed how to possibly introduce legislative measures to enable the mass expulsion of immigrants from Germany, as well as German citizens with immigrant roots and German citizens who have helped refugees. (Photo by Michele Tantussi/Getty Images)

Auf der schneebedeckten Wiese vor dem Reichstag kommt ein buntes, fröhliches Volk zusammen: viele junge Menschen, viele Eltern mit Kindern, viele grauhaarige Frauen und Männer. Einige haben Plakate gemalt, auf denen Sprüche stehen wie «Rechtsextremismus ist keine Alternative», «Nie wieder ist jetzt», «EkelhAfD» oder «Remigriert euch ins Knie».

«Das Signal ist stark, aber es genügt nicht»

Gerd Mager ist 80 Jahre alt, pensionierter Sozialwissenschaftler. Auf die Frage, warum er jetzt vor Bundestag und Kanzleramt demonstriert, sagt er: «Ich fürchte, der Faschismus kann wiederkommen.» Die Erfolge der Rechten bei Wahlen und in Umfragen belegten, dass nationalsozialistische Ideen wieder salonfähig würden.

«In meiner Familie waren Nazis, ich weiss, was das heisst.» Mager freut sich, dass so viele Menschen jetzt gegen die AfD aufstehen, Illusionen aber macht er sich nicht: «Das Signal ist stark, ja. Aber es genügt nicht. Die Menschen, die hier sind, brauchen wir nicht zu überzeugen. Und die anderen zu überzeugen, fällt schwer.»

«Die Vorstellung finde ich gruselig»

Yuna und Rat sind Freundinnen, 17 Jahre alt, beide machen im Sommer die Matur. Yuna ist schwarz gekleidet und geschminkt, Rat hat grün gefärbte Haare, eine Menge Piercings im Gesicht, trägt Netzstrümpfe und Stiefel. «Die Vorstellung, dass die AfD an die Macht kommt und verwirklicht, was sie beabsichtigt, finde ich gruselig», meint Yuna.

Sie sei auf Tiktok politisiert worden, da habe sie auch erfahren, dass die AfD Deportationen von Menschen plane, die ihr nicht deutsch genug vorkämen. «Da würde die Hälfte meiner Freundinnen und Freunde aus Deutschland rausgeschmissen!», empört sich Yuna. Rat freut sich darüber, dass linke Antifaschistinnen wie sie plötzlich nicht mehr ganz allein auf der Strasse stehen wie früher.

«Es ist so viel Wut da, so viel Ohnmacht»

Horst Schröder, 74 Jahre alt, meint, Deutschland spalte sich gerade politisch – in Oben und Unten, in Drinnen und Draussen. «Es ist so viel Wut da, von allen Seiten, so viel Ohnmacht.» Er habe zuletzt gar keine Nachrichten mehr hören wollen, weil eine schlechter gewesen sei als die andere. Schröder ist in Westfalen auf dem Land aufgewachsen. Die CDU verliess er, als er nach seinem späten Coming-out beschimpft wurde. Er trat in die SPD ein.

Schröder hat einen reichen, schwulen Freund, der Alice Weidel bewundert, die Chefin der AfD. Ihm ist das völlig unverständlich. «Begreifst du denn nicht», sagt er dem Freund, «dass die Rechtsextremen, kämen sie heute an die Macht, mit uns dasselbe anstellten wie damals die Nazis?» So, wie er die Christdemokraten kennt, glaubt er, dass diese im Osten der AfD irgendwann zur Macht verhelfen. «Noch nicht diesen Herbst vielleicht, aber irgendwann bestimmt.»

People hold up their cell phones as they protest against the AfD party and right-wing extremism in front of the Reichstag building in Berlin, Germany, Sunday, Jan. 21, 2024. (AP Photo/Ebrahim Noroozi)

Der Architekt Nils Kohmann ist mit seinen Söhnen gekommen, 9- und 7-jährig. «Kinder gegen Nazis» und «Kein Platz für Nazis» haben sie mit farbigen Stiften auf ihre Schilder gemalt. «Wir tauschen Nazis gegen Flüchtlinge» stand auch hoch im Kurs. Er habe versucht, sagt der Vater, ihnen spielerisch beizubringen, worum es beim Fremdenhass gehe – warum er in der Geschichte dieses Landes eine besonders verheerende Rolle gespielt habe und warum er immer wieder komme.

Nein, er habe keine Angst, die Kinder zu instrumentalisieren. Sie sollten sehen, für welche Werte er stehe. Es sei gut für sie, zu erfahren, dass man für seine Überzeugung auf die Strasse gehen und etwas bewirken könne – und dass man mit seiner Meinung oft nicht allein sei.

«Die AfD ist wie besoffen von ihren Erfolgen»

Ahmad Ghazi, 80 Jahre alt, kam als Student vor 53 Jahren aus dem türkischen Kurdistan nach Berlin – und ist geblieben. An der Demonstration nimmt er teil, «um zu zeigen, dass wir hier sind und hier bleiben».

Die 51-jährige Vanessa findet, es wäre auch früher schon an der Zeit gewesen, gegen die AfD auf die Strasse zu gehen. Jetzt aber sei es höchste Zeit. «Die Rechtsextremisten sind gerade wie besoffen von ihren Erfolgen und reden mittlerweile ganz offen von Schlimmem. Das macht mir Angst – und nicht nur mir.»

Miriam arbeitet als Psychotherapeutin mit Kindern und steht inmitten der gewaltigen Menge wie eine Statue. Sie demonstriere selten, sagt sie. Sie sei von den Bildern aus anderen deutschen Städten mitgerissen worden. Und hoffe, andere liessen sich nun ebenso mitreissen.