Stimmen von Protest gegen die AfD«Ich fürchte, der Faschismus kann wiederkommen»
In Deutschland hat in drei Tagen eine Million Menschen gegen die AfD demonstriert. Junge und alte Menschen in Berlin erzählen, was sie auf die Strasse treibt.
Es wäre nicht Berlin, verliefe der Aufmarsch am Sonntagnachmittag nicht chaotisch: Der riesige Platz vor dem Reichstag füllt sich von allen Seiten, U- und S-Bahnen stehen still, weil so viele Menschen in die Wagen drängen. Die Polizei sperrt immer wieder Brücken über die Spree, um gefährliche Engpässe zu vermeiden. Schliesslich wird der Versammlungsraum in den Tiergarten hinein erweitert, damit alle Leute Platz finden.
100’000 Menschen seien zusammengekommen, erklärt die Polizei eine Stunde nach Beginn der Demonstration, hat aber wahrscheinlich selbst längst den Überblick verloren. Von 350’000 Menschen sprechen die Veranstalter. Ähnlich belebt wie in Berlin war es am Sonntag bereits in München gewesen, am Freitag in Hamburg: Es strömten viel mehr Menschen zusammen als erwartet, manche Kundgebungen mussten aus Sicherheitsgründen vorzeitig beendet werden.
So grosse Demos wie zuletzt in den 80er-Jahren
Zusammengezählt protestierten von Freitag bis Sonntag an 100 Demonstrationen im ganzen Land mindestens eine Million Menschen gegen die Alternative für Deutschland. So breit abgestützte politische Kundgebungen hat die Republik zuletzt vermutlich in der Friedensbewegung der 80er-Jahre gesehen.
Auf der schneebedeckten Wiese vor dem Reichstag kommt ein buntes, fröhliches Volk zusammen: viele junge Menschen, viele Eltern mit Kindern, viele grauhaarige Frauen und Männer. Einige haben Plakate gemalt, auf denen Sprüche stehen wie «Rechtsextremismus ist keine Alternative», «Nie wieder ist jetzt», «EkelhAfD» oder «Remigriert euch ins Knie».
«Das Signal ist stark, aber es genügt nicht»
Gerd Mager ist 80 Jahre alt, pensionierter Sozialwissenschaftler. Auf die Frage, warum er jetzt vor Bundestag und Kanzleramt demonstriert, sagt er: «Ich fürchte, der Faschismus kann wiederkommen.» Die Erfolge der Rechten bei Wahlen und in Umfragen belegten, dass nationalsozialistische Ideen wieder salonfähig würden.
«In meiner Familie waren Nazis, ich weiss, was das heisst.» Mager freut sich, dass so viele Menschen jetzt gegen die AfD aufstehen, Illusionen aber macht er sich nicht: «Das Signal ist stark, ja. Aber es genügt nicht. Die Menschen, die hier sind, brauchen wir nicht zu überzeugen. Und die anderen zu überzeugen, fällt schwer.»
«Die Vorstellung finde ich gruselig»
Yuna und Rat sind Freundinnen, 17 Jahre alt, beide machen im Sommer die Matur. Yuna ist schwarz gekleidet und geschminkt, Rat hat grün gefärbte Haare, eine Menge Piercings im Gesicht, trägt Netzstrümpfe und Stiefel. «Die Vorstellung, dass die AfD an die Macht kommt und verwirklicht, was sie beabsichtigt, finde ich gruselig», meint Yuna.
Sie sei auf Tiktok politisiert worden, da habe sie auch erfahren, dass die AfD Deportationen von Menschen plane, die ihr nicht deutsch genug vorkämen. «Da würde die Hälfte meiner Freundinnen und Freunde aus Deutschland rausgeschmissen!», empört sich Yuna. Rat freut sich darüber, dass linke Antifaschistinnen wie sie plötzlich nicht mehr ganz allein auf der Strasse stehen wie früher.
«Es ist so viel Wut da, so viel Ohnmacht»
Horst Schröder, 74 Jahre alt, meint, Deutschland spalte sich gerade politisch – in Oben und Unten, in Drinnen und Draussen. «Es ist so viel Wut da, von allen Seiten, so viel Ohnmacht.» Er habe zuletzt gar keine Nachrichten mehr hören wollen, weil eine schlechter gewesen sei als die andere. Schröder ist in Westfalen auf dem Land aufgewachsen. Die CDU verliess er, als er nach seinem späten Coming-out beschimpft wurde. Er trat in die SPD ein.
Schröder hat einen reichen, schwulen Freund, der Alice Weidel bewundert, die Chefin der AfD. Ihm ist das völlig unverständlich. «Begreifst du denn nicht», sagt er dem Freund, «dass die Rechtsextremen, kämen sie heute an die Macht, mit uns dasselbe anstellten wie damals die Nazis?» So, wie er die Christdemokraten kennt, glaubt er, dass diese im Osten der AfD irgendwann zur Macht verhelfen. «Noch nicht diesen Herbst vielleicht, aber irgendwann bestimmt.»
Der Architekt Nils Kohmann ist mit seinen Söhnen gekommen, 9- und 7-jährig. «Kinder gegen Nazis» und «Kein Platz für Nazis» haben sie mit farbigen Stiften auf ihre Schilder gemalt. «Wir tauschen Nazis gegen Flüchtlinge» stand auch hoch im Kurs. Er habe versucht, sagt der Vater, ihnen spielerisch beizubringen, worum es beim Fremdenhass gehe – warum er in der Geschichte dieses Landes eine besonders verheerende Rolle gespielt habe und warum er immer wieder komme.
Nein, er habe keine Angst, die Kinder zu instrumentalisieren. Sie sollten sehen, für welche Werte er stehe. Es sei gut für sie, zu erfahren, dass man für seine Überzeugung auf die Strasse gehen und etwas bewirken könne – und dass man mit seiner Meinung oft nicht allein sei.
«Die AfD ist wie besoffen von ihren Erfolgen»
Ahmad Ghazi, 80 Jahre alt, kam als Student vor 53 Jahren aus dem türkischen Kurdistan nach Berlin – und ist geblieben. An der Demonstration nimmt er teil, «um zu zeigen, dass wir hier sind und hier bleiben».
Die 51-jährige Vanessa findet, es wäre auch früher schon an der Zeit gewesen, gegen die AfD auf die Strasse zu gehen. Jetzt aber sei es höchste Zeit. «Die Rechtsextremisten sind gerade wie besoffen von ihren Erfolgen und reden mittlerweile ganz offen von Schlimmem. Das macht mir Angst – und nicht nur mir.»
Miriam arbeitet als Psychotherapeutin mit Kindern und steht inmitten der gewaltigen Menge wie eine Statue. Sie demonstriere selten, sagt sie. Sie sei von den Bildern aus anderen deutschen Städten mitgerissen worden. Und hoffe, andere liessen sich nun ebenso mitreissen.
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