Lesende fragen Peter SchneiderIst die traditionelle Monogamie die beste Beziehungsvariante?
Unser Kolumnist beantwortet die Leserinnenfrage, ob Polyamorie nicht viel anstrengender ist als eine klassische Beziehungsvariante.

In letzter Zeit liest man immer mehr von Polyamorie, also einem Beziehungsmodell mit mehreren Liebespartnern gleichzeitig. Ich habe Bekannte, die darüber nachdenken, ihre Beziehung «zu öffnen», oder dies bereits getan haben. Einher geht das oft mit quälender Eifersucht, die Mann und Frau nicht so in den Griff bekommen, wie sie es möchten. Die Folge sind ausufernde Diskussionen um Regeln, mithilfe derer sie die Tücken von Liebe und Sex besser handhaben zu können meinen. Ich frage mich (und Sie), ob vielleicht die traditionelle (schlimmstenfalls) serielle Monogamie oder gar die Ehe nicht doch die beste Beziehungsvariante sind. K. G.
Liebe Frau G.
Warum immer nostalgisch werden, wenn neue menschliche Verkehrsformen nicht reibungslos funktionieren? Oder Zuflucht in der Anthropologisierung suchen? Immer schon hat der Mensch, und immer schon war der Mensch ... Erstens wissen wir nicht, was DER Mensch immer schon war (noch eifersüchtiger, weniger eifersüchtig), zweitens können wir nicht voraussehen, wie Menschen in Zukunft fühlen und denken werden.
Es ist wie mit den Diskussionen über Gender und Trans. Es ist offensichtlich, dass das Denken und Fühlen über und von geschlechtlicher Identität sich in den letzten Jahrzehnten so gewandelt hat, dass das zwanghafte Wiederholen des «Es gibt nur zwei Geschlechter»-Mantra fast schon rührend wirkt.
Anfang der 70er-Jahre habe ich als Jugendlicher das Buch «Die offene Ehe» von Nena und George O'Neill gelesen. Ich fand es damals überzeugend; heute würde ich es wahrscheinlich weniger affirmativ als eine Verheissung lesen, sondern als Symptom eines Unbehagens in der Ehe, das sich im Laufe der sogenannten sexuellen Revolution artikulieren konnte.
Natürlich kann man sich leicht über die neumodischen Blütenträume neuer Beziehungsformen lustig machen und über die Anstrengungen, die offene Beziehungen mit sich bringen, über den lästigen Redeaufwand und die naive Regelgläubigkeit schnöden. Man kann es aber auch bleiben lassen und stattdessen realen Menschen zuhören (statt erfundenen Freunden und Freundinnen fiktiver Kolumnen-Welten), die sich wirklich mit dem heiklen Mit- und Durcheinander von Liebe, Sex, emotionaler Bindung und erotischer Anziehung herumschlagen und dabei sehr empathisch auf die Gefühle anderer Menschen achten.
Vor allem mutieren sie nicht zu Missionar:innen eines völlig neuartigen idealen Miteinanders. Sie verhalten sich eher wie Experimentator:innen, die wissen, dass manches schieflaufen kann, wenn man nicht vorsichtig ist; dass man aber auch manches ausprobieren muss, wenn man etwas Neues in Erfahrung bringen will und nicht bloss wieder bei der Erkenntnis landen will, dass früher doch alles voll okay war.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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