Lesende fragen Peter SchneiderSind Pazifistinnen und Pazifisten naiv?
Unser Autor findet: Es gibt Situationen, in denen es richtig ist, dass Menschen Krieg führen.
Für mich ist Pazifismus zweifellos eine ehrenwerte Haltung, nur fürchte ich, dass man sie für ziemlich blauäugig halten muss. Was meinen Sie? C.W.
Liebe Frau W.
Als ich noch jung und deutsch war und ins wehrpflichtige Alter kam, pflegte man dortzulande die Reinheit der pazifistischen Gesinnung von Wehrdienstverweigerern mit der Frage zu testen, was man denn täte, wenn man nachts allein im Park mit Begleitung unterwegs wäre und eine böse Bande von Vergewaltigern begegne einem, aber zufällig habe man eine Maschinenpistole dabei (si non è vero è ben trovato). Selbstverständlich hätte ich die schwere Maschinenpistole sofort in die Büsche geworfen, um schneller weglaufen zu können.
Gottlob kam es bei mir wegen Fehlsichtigkeit, Plattfüssen und Herzrhythmusstörungen nie zu diesem Ernstfall. Wenn man Pazifismus auf dem Niveau dieser Fangfrage diskutiert, dann dürfte wohl kaum etwas Erhellendes dabei herauskommen.
Nicht jeder Krieg entspricht einem Die-Guten-gegen-die-Nazis-Schema
Wenn Pazifismus mit absoluter Wehrlosigkeit gleichgesetzt wird, kann es nur noch absurd werden: Der Zweite Weltkrieg wäre uns erspart geblieben, wenn die Polen und dann die Alliierten Pazifisten gewesen wären. Ha! Erwischt! Ein Nazivergleich! Jawohl, und zwar einer, der den Nagel auf den Kopf trifft.
Es gibt Situationen, in denen es richtig ist, dass Menschen Krieg führen und man nicht nur im Park für seine Freundin (oder umgekehrt) kämpft, sondern auch in einer Armee gegen eine andere. (Gefangene werden dabei gemacht und gemäss Kriegsrecht menschlich behandelt. Abtreten!) Der Kampf gegen die Nazis war nicht nur gerecht, sondern auch notwendig. Darum sind Nazivergleiche auch nicht durchwegs pfui, sondern bilden in diesem Fall geradezu den Goldstandard für eine klare Entscheidung zwischen Krieg und einem Frieden, der ein fortdauerndes Verbrechen gegen die Menschheit gewesen wäre.
Genau darin liegt aber auch die Schwäche dieses Goldstandards des Vergleichs. Denn nicht jeder Krieg (oder vielleicht kaum einer) kann in einem Die-Guten-gegen-die-Nazis-Schema abgebildet werden. Das gilt für die Irakkriege, für die Kriege im zerfallenen Jugoslawien, für die jetzigen Kriege in Gaza und in der Ukraine.
Das heisst aber nicht, dass man so tun kann, als wäre alles viel zu komplex, sodass man nicht ein paar Dinge ganz klar benennen kann: Russland ist der Aggressor, und die Ukraine hat das Recht, sich gegen diesen Angriff zu verteidigen; Israel hat das Recht, die Hamas im Gazastreifen zu bekämpfen. Die Ukraine ist kein Nazi-Staat; Russland hingegen ein faschistisch-imperialistischer. Und Israel kein kolonialistisches Gebilde, das von der Hamas befreit wird.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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