Lesende fragen Peter SchneiderIst Unmenschlichkeit menschlich?
Unser Kolumnist muss eine schwierige Frage beantworten: Wie lässt sich Humanität definieren, wenn sich unsere Spezies durch ihre Grausamkeit auszeichnet?
Ich habe eine Frage in Bezug auf den Begriff «Menschlichkeit». Grundsätzlich wird dieser Begriff als positiv wahrgenommen. Wenn ich aber an die «unmenschlichen» Vorkommnisse in der ganzen Welt denke, frage ich mich, wie «Menschlichkeit» überhaupt definiert werden kann. J.F.
Lieber Herr F.
Wenn man Unmenschlichkeit als das Gegenteil von Menschlichkeit definieren will, dann stösst man auf das Paradox, dass die Fähigkeit zur Unmenschlichkeit das vermutlich einzige Alleinstellungsmerkmal DES Menschen ist: nicht die Sprache, nicht das Soziale, nicht der Werkzeuggebrauch und was man sonst alles zur Abgrenzung des Menschen vom Tier in Feld geführt hat.
Natürlich gibt es Unterschiede, was den Gebrauch von Werkzeugen bei Raben und Primaten, den der Sprache bei den Bienen und den Walen und was die Vergesellschaftung von Nacktmullen betrifft, aber es gibt unscharfe Übergänge zwischen Mensch und Tier. Kein Wolf kann auf eine Art unwölfisch sein, wie ein Mensch unmenschlich sein kann. Zur Menschlichkeit gehört vieles: Freundlichkeit, Güte, Mitleid … – Kleines und Grosses.
Als hätten es die Nazis nur an Menschlichkeit fehlen lassen
Menschlichkeit ist ein Ideal, das man realisieren kann, Unmenschlichkeit gehört zur menschlichen Realität. «Unmenschlich» kann vieles sein. Dennoch ist nicht alles, was unmenschlich ist, das, was man als «crime against humanity» bezeichnet. Dieser Begriff wurde anlässlich der Nürnberger Prozesse geschaffen. Ins Deutsche wurde er mit «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» übersetzt. Anlässlich des Eichmann-Prozesses merkte Hannah Arendt an, diese Übersetzung sei «wahrhaftig das Understatement des Jahrhunderts – als hätten es die Nazis lediglich an ‹Menschlichkeit› fehlen lassen, als sie Millionen in die Gaskammern schickten».
Die Verbrechen der Nazis waren nicht allein Kriegsverbrechen, wie sie in Kriegen immer wieder verübt werden; ihr Ziel war die Vernichtung eines Teils der Menschheit, ihre Ideologie der Kampf gegen die «Schlacken unserer Humanitätsduselei» (Fritz Sauckel, Generalbevollmächtigter für die Zwangsarbeiter).
Wenn Unmenschlichkeit zu einem notwendigen Übel erklärt wird, dann klingt das auch wie bei Björn Höcke: «… eine neue politische Führung … ist den Interessen der autochthonen Bevölkerung verpflichtet und muss aller Voraussicht nach Massnahmen ergreifen, die ihrem eigentlichen moralischen Empfinden zuwiderlaufen. Ja, neben dem Schutz unserer … Aussengrenzen wird ein grossangelegtes Remigrationsprojekt notwendig sein. Und bei dem wird man … nicht um eine Politik der ‹wohltemperierten Grausamkeit›, wie es Peter Sloterdijk nannte, herumkommen. Das heisst, dass sich menschliche Härten und unschöne Szenen nicht immer vermeiden lassen werden.»
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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