Lesende fragen Peter SchneiderIst es wirklich so wichtig, wer etwas sagt?
Heute werde oft weniger Gewicht auf den Inhalt einer Aussage gelegt, sagt ein Leser, als auf die Frage: Wer spricht? Unser Kolumnist sagt, warum er das gut findet.
Nahostkonflikt, Religion, Nation, Geschlecht, Hautfarbe: In letzter Zeit wird oft mehr Gewicht darauf gelegt, wer etwas sagt, und weniger darauf, was eine gewisse Person sagt. In meinem strukturalistisch angehauchten Literaturstudium in den Siebzigerjahren wurde uns noch eingebläut, dass der Autor tot sei und nur der Text zähle. Die Frage «Qui parle?» sei obszön, meinte Roland Barthes. Mein Vater schärfte mir noch ein, dass man allen zuhören soll. Oft zieht man Aussagen aus falscher Quelle heute aber schon gar nicht in Betracht. Was meinen sie dazu als alter weisser Mann? H.W.
Lieber Herr W.
In Anlehnung an ein viel zitiertes Diktum Mark Twains kann ich Ihnen versichern: Roland Barthes’ Verkündigung des Tods des Autors ist stark übertrieben. Hätte er lediglich gesagt: Der Autor als Universalgenie, dessen Texte nur biografisch erschlossen werden, ist schwer überschätzt, hätte das allerdings niemanden vom Hocker gehauen; und wäre es nicht auch Barthes gewesen, der die Frage nach dem Sprecher als «obszön» bezeichnet hat (warum? weil Tote nicht sprechen können?), würde man sein Bonmot als gehobenen Unfug betrachten.
Nicht nur gegenüber einem Enkeltrickbetrüger am Telefon ist es sinnvoll, sich zu fragen «Wer spricht?». Höchstens die trivialsten Aussagen lassen sich von dem ablösen, der sie macht; und manchmal nicht mal die. «Es regnet schon wieder» ist möglicherweise harmloser Wettersmalltalk, auf den man einfach wie in Loriots Sketch «Anstandsunterricht» mit «Man muss ja auch an die Landwirtschaft denken» antworten kann.
Wenn der Satz hingegen aus dem Munde einer Chemtrail-Verschwörungstheoretikerin stammt, kann man sich auf einen Sermon darüber einstellen, dass die Rothschilds das Wetter kontrollieren. Kein Text ohne Kontext, und zum Kontext gehört eben auch der Sprecher oder die Autorin (und einiges mehr).
Ihr Vater in allen Ehren: Aber man muss nicht allen zuhören. Ich habs zwar schon mehrfach gesagt, aber ich sage es gern noch einmal: Leute, die behaupten, «immer schon» habe «DER Mensch …» oder «die Evolution» habe uns auf XY «nicht vorbereitet», muss man nicht ernst nehmen. Gewiss ist es Blödsinn, zu behaupten, nur Thurgauerinnen und Thurgauer dürften über Thurgauerinnen und Thurgauer schreiben; so oft wird das auch nicht behauptet.
Ein radikaler Universalismus der Rede (jede und jeder kann über alles sprechen) ist so problematisch wie eine extrem identitätspolitische Position, der zufolge nur TUVWXYZ etwas über TUVWXYZ von sich geben dürfen. Betroffenheit und Zugehörigkeit erzeugen manchmal eine gewisse Betriebsblindheit, oft allerdings auch eine besondere Expertise. Allzu hoch schwebender Universalismus bringt nicht unbedingt Weitsicht mit sich.
Der Psychoanalytiker Peter Schneider beantwortet Fragen zur Philosophie des Alltagslebens. Senden Sie uns Ihre Fragen an gesellschaft@tamedia.ch.
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