Wende in Lausanner PolizistenprozessPlötzlich plädiert der Staatsanwalt im Todesfall Mike Ben Peter auf Freispruch
Der Ankläger ändert während des Prozesses seine Strategie: Die sechs Polizisten sollen nun nicht mehr für den Tod des Verhafteten verantwortlich sein. Für Donnerstag wird das Urteil erwartet.
Seine Anklageschrift im Tötungsprozess gegen sechs Lausanner Stadtpolizisten zählt kaum sechs Seiten. Im Gerichtssaal wirkte Laurent Maye, stellvertretender Waadtländer Generalstaatsanwalt, zeitweilig abwesend. Statt seine Anklage voranzutreiben, dem Gericht Elemente strafbarer Handlungen aufzuzeigen und den Angeklagten widersprüchliche Aussagen nachzuweisen, blieb Maye durchgehend passiv. Was sich während des ganzen Prozesses angekündigt hat, ist am Montag eingetroffen: Staatsanwalt Maye beantragte in seinem Plädoyer, die sechs Polizisten seien von Schuld und Strafe freizusprechen.
Der Ankläger eröffnete dem Gericht, er erkenne keinen Beweis, wonach die sechs Polizisten für den Tod des 39-jährigen Nigerianers Mike Ben Peter vom 28. Februar 2018 beim Lausanner Bahnhof eine Verantwortung trügen. Damit liess der Staatsanwaltschaft seine eigene Anklageschrift, in der er das Handeln der Polizisten mit dem Straftatbestand der fahrlässigen Tötung in Verbindung brachte, verbal durch den Schredder.
Tritte in Genitalien und Rippen
Staatsanwalt Laurent Maye betonte hauptsächlich, die Polizisten hätten bei der Verhaftung von Mike Ben Peter vom 28. Februar 2018 zwar Fehler gemacht, diese hätten aber keinen kausalen Zusammenhang mit dem Tod des 39-jährigen Nigerianers. Gemäss Maye haben die Polizisten Mike Ben Peter zu Recht in Bauchlage gebracht und ihm Handschellen angelegt – haben es danach aber unterlassen, ihn wieder zur Seite zu drehen und in Sitzstellung zu bringen, wie es die Vorsichtsmassnahmen der einschlägigen Polizeihandbücher verlangen.
Trotz allem gebe es keine Beweise, dass er wegen einer minutenlangen Bauchlage einen Erstickungstod gestorben sei, so Maye. Das gehe auch aus zwei gerichtsmedizinischen Gutachten hervor. Mike Ben Peter sei vielmehr an multiplen Faktoren gestorben und sei gesundheitlich angeschlagen gewesen.
Simon Ntah, Anwalt der Opferfamilie, anerkannte, dass Mike Ben Peter wohl tatsächlich nicht ausschliesslich der Bauchlage wegen gestorben sei. Tritte in die Genitalien und die Rippen und der Einsatz des Pfeffersprays auf die Brust und direkt ins Gesicht hätten beim 39-Jährigen aber einen derartigen Stress verursacht, dass er als Folge davon in Bauchlage einen Herzstillstand erlitt. Zudem sei er übergewichtig gewesen.
«Es geht nicht nur um die Bauchlage, es geht um die Serie der Zwangsmassnahmen, darin besteht der Irrtum des Staatsanwalts», kritisierte Ntah. Er bezichtigte die Polizisten einmal mehr, «unangemessen und unverhältnismässig» gehandelt und Schmerzensschreie des 39-Jährigen schlicht ignoriert zu haben. Mike Ben Peter sei nicht aggressiv gewesen, das betonten selbst die Polizisten, so Ntah.
Den sechs Anwälten der sechs Polizisten ging es wiederum darum, Mike Ben Peter als vorbestraften Drogendealer darzustellen, der sich gegen die Polizeikontrolle sträubte. In keinem Moment sei ein Polizist auf dessen Rücken gewesen und habe auf den Brustkorb gedrückt, betonten die Verteidiger. Zudem sei es zur Einsatzzeit «kalt, halb dunkel und stressig» gewesen. Man habe beim Einsatz gegen den Strassendealer rasch handeln müssen.
Strategiewechsel der Staatsanwaltschaft
Die Frage im Fall von Staatsanwalt Maye ist: War er von der Unschuld der Polizisten nicht schon vor Prozessbeginn überzeugt? Dann hätte er die Strafuntersuchung einfach einstellen und darauf warten können, ob die Hinterbliebenen des Todesopfers dies akzeptieren. Erst wenn eine Beschwerde gegen die Einstellung gutgeheissen worden wäre, hätte der Staatsanwalt eine Anklage auch gegen seinen Willen verfassen müssen. Denn der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten» darf nur von einem Gericht angewendet werden. Die Staatsanwaltschaft muss sich an den Grundsatz «Im Zweifel für die Anklage» halten.
Darauf ging Staatsanwalt Maye in seinen Ausführungen nicht ein. Simon Ntah, Anwalt der Opferfamilie, hatte während des Prozesses hingegen betont, es habe während der Strafuntersuchung einen Moment gegeben, in dem die Staatsanwaltschaft das Verfahren habe einstellen wollen.
Gemäss der Schweizer Strafprozessordnung muss die Staatsanwaltschaft Anklage erheben, wenn sie ein schuldhaftes Verhalten zumindest nicht ausschliessen kann. Für Donnerstag wird nun das Urteil erwartet. Das Bezirksgericht Lausanne kann die Polizisten auch ohne Strafantrag des Staatsanwalts verurteilen und bestrafen.
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