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Invasive Arten in neuem Ökosystem
Plastikabfall im Pazifik schafft neuen Lebensraum für Küstentiere   

Schwimmende Abfälle bilden die Grundlage für ein neues Ökosystem: Ein Taucher bei einem Geisternetz im Great Pacific Garbage Patch.
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Auf den ersten Blick scheinen die Ergebnisse einer am Montag erschienenen Studie positiv: Die 80’000 Tonnen Plastik, die im nordpazifischen Müllstrudel (Great Pacific Garbage Patch) treiben, beherbergen eine Fülle von Meeresorganismen. 484 wirbellose Meerestiere von 46 verschiedenen Arten, die sich an die Plastikabfälle angepasst und sie zu einem neuen Lebensraum gemacht haben, fanden die Wissenschaftler. 

Der Great Pacific Garbage Patch, vor der Westküste der USA gelegen, entsteht durch zirkuläre Meeresströmungen und erstreckt sich über eine Fläche von 1,6 Millionen Quadratkilometern. Gemäss einer Studie der Fachzeitschrift «Scientific Reports» machen Objekte, die grösser als 5 Zentimeter sind, drei Viertel der Masse aus: Sie bestehen aus Fischernetzen, Eimern, Plastikflaschen, Kleiderstangen oder Toilettendeckeln. Mikroplastik mit einer Grösse von weniger als 5 Millimetern ist für 8 Prozent der Masse der Plastikabfälle im nordpazifischen Müllstrudel verantwortlich.

Die kleinen Plastikstücke treiben wie winzige Flocken in der Nähe der Wasseroberfläche. Der Great Pacific Garbage Patch ist daher keine Insel aus Plastik, als was er oft fälschlicherweise bezeichnet wird, sondern vielmehr eine trübe Suppe aus kleineren und grösseren Plastikstücken. Er kann darum auch nicht vom Weltall aus gesehen werden. Im Gegensatz zu den grösseren Plastikabfällen, die in der Regel an der Wasseroberfläche treiben, sinkt das Mikroplastik langsam in die Tiefsee ab und verschmutzt das dortige Ökosystem, das wir noch gar nicht richtig verstehen. 

Abfälle der Industriefischerei: Der grösste Teil der im Great Pacific Garbage Patch schwimmenden Abfälle besteht aus Netzen und Seilen. 

Zwischen November 2018 und Januar 2019 sammelten die Wissenschaftler 105 Stücke Plastikabfall ein, darunter Netze, Bojen, Plastikeimer und Zahnbürsten. Sie fotografierten die Plastikstücke und froren sie ein. Im Smithsonian Environmental Research Center in Kalifornien und Maryland untersuchten sie die Stücke dann auf tierisches Leben. 

Küstentiere in der Hochsee 

80 Prozent der Lebewesen, welche die Forscher fanden, leben normalerweise in Küstennähe, wie die Wissenschaftler in ihrer Studie, die in der Zeitschrift «Nature Ecology and Evolution» erschienen ist, schreiben. Unter den eingesammelten Tieren befanden sich neben den zu erwartenden Muscheln auch Krabben von der japanischen Küste, Schwämme, Würmer, Seepocken, Nesseltiere und Seeanemonen. Die Meeresökologen erwarteten eigentlich, dass die Küstenspezies ausserhalb ihres natürlichen Lebensraums nur sporadisch vorkommen würden und ums Überleben kämpfen müssten.

Auf den im Great Pacific Garbage Patch treibenden Plastikstücken fanden sie nun jedoch Tiere, die wachsen und sich sogar vermehren: «Das Überraschende war, dass die Küstentiere so weit draussen so häufig vorkommen. Bisher dachte man, dass Küstenlebewesen auf dem offenen Meer nur mit Mühe überleben können. Nun fanden wir jedoch auf 70 Prozent der eingesammelten Plastikstücke Lebewesen aus Küstengebieten, die nicht nur am Überleben, sondern am Wachsen und Sich-Fortpflanzen waren», wie der Schweizer Umweltwissenschaftler Matthias Egger, Mitautor der Studie und Leiter für Umwelt und Soziales bei der Non-Profit-Organisation The Ocean Cleanup, gegenüber Tamedia erklärte. 

Von Leben bevölkert: Die federartig aussehende Aglaophenia pluma, umgangssprachlich als Meerfarn bezeichnet, besiedelt ein Stück Plastik, das die Forschenden im Rahmen der Studie einsammelten. 

Die untersuchten Tiere ernähren sich auf offener See unter anderem von Plankton, kleinen Quallen, kleinen Schnecken oder im Fall der Krabben von Küstenalgen, die auf dem Plastikmüll wachsen. Auf zwei Dritteln der eingesammelten Plastikabfälle fanden die Forscher sowohl natürlich in der Hochsee lebende Arten als auch die eingewanderten Küstenarten. Viele von ihnen stammen aus Ost- und Südostasien. So sind die Pazifischen Austern oder die Orange Gestreifte Anemone, welche die Forscher fanden, an der Küste Japans beheimatet. Die Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Tiere mit dem Tōhoku-Tsunami 2011 in den Ozean hinausgesogen wurden und so in den nordpazifischen Müllstrudel gelangten.

Die eingewanderten Arten konkurrieren mit den Hochseearten um Platz und Nahrung. So fanden die Forscher Küstenanemonen, die sich von in der Hochsee lebenden Schnecken ernährten. Die neuen Gemeinschaften könnten sich daher zum Nachteil der traditionellen Bewohner des offenen Ozeans entwickeln, die bereits mit Nahrungsknappheit zu kämpfen haben. Die genauen Dynamiken zwischen den eingeschleppten Küstenarten und den Hochseespezies sind aber noch nicht detailliert erforscht. 

Verbreitung von invasiven Arten 

Trotz der Anpassungsfähigkeit der eingewanderten Küstenarten bewertet Egger die ökologischen Konsequenzen des veränderten Lebensraums als sehr problematisch: «Das ist sehr beunruhigend. Wenn man invasive Arten in ein neues Ökosystem bringt, hat das sehr schwerwiegende Folgen für das dortige Zusammenleben. Das ist ein Warnsignal, dass man das Plastik möglichst schnell herausholen sollte und damit auch den Zustrom von Küstenorganismen möglichst rasch unterbinden kann.» 

Die Plastikabfälle stellen gerade auch für die grösseren Tierarten in der Hochsee ein erhebliches Problem dar: Vögel verenden an zu viel verschlucktem Plastik, da sie es nicht verdauen oder nicht wieder ausscheiden können. Meeresschildkröten verheddern sich in Netzen, Fische und Wale essen Mikroplastik, und die Kunststoffabfälle selber geben beim Verfall Giftstoffe ab. Egger hofft, dass die Non-Profit-Organisation The Ocean Cleanup den nordpazifischen Müllstrudel in den nächsten zehn, zwanzig Jahren mit einem speziell entwickelten Sammelsystem, das an einen Pac-Man erinnert, vom Plastikmüll befreien kann. 

Einem Pac-Man gleichend: Mit einem grossflächigen Sammelsystem will die Organisation The Ocean Cleanup den Great Pacific Garbage Patch von Plastikmüll befreien. 

Da das Plastik des Great Pacific Garbage Patch trotz der zirkulären Meeresströmungen auch an Strände gespült wird, wo die neu auf den Abfällen lebenden Küstenbewohner zuvor nicht heimisch waren, besteht zudem die Gefahr der Einschleppung von invasiven Arten in weitere Ökosysteme: «Wenn sich die Küstenarten reproduzieren können, können sie sich ausbreiten. Und wenn sie sich ausbreiten können, können sie in neue Lebensräume eindringen», erklärte Linda Amaral-Zettler, eine Meeresmikrobiologin am Royal Netherlands Institute for Sea Research, die nicht an der neuen Studie beteiligt war, gegenüber dem «Scientific American». Die Meeresmikrobiologin hofft, dass die neue Studie als Warnung dafür dient, dass Plastik das Eindringen von Arten erleichtern könnte, insbesondere zwischen weitverbreiteten Küstenökosystemen. 

Mikroplastik verschlimmert die Klimaerwärmung 

Egger weist derweil auf ein weiteres, schwerwiegendes Problem hin, das durch die Plastikverschmutzung der Meere hervorgerufen wird. So gibt es Hinweise, dass die Interaktion des Mikroplastiks im Meer mit den dort ansässigen Algen und dem Plankton dazu führt, dass der Ozean weniger Kohlenstoffdioxid aufnehmen könnte. «Wir untersuchen zurzeit, welchen Effekt das auf das Klima hat. Wie kann das Mikroplastik im Great Pacific Garbage Patch die CO₂-Konzentration in der Atmosphäre beeinflussen? Da das Meer einer der grössten Speicher von Kohlenstoffdioxid ist, das in der Tiefsee abgelagert wird, ist das von höchster Relevanz.» 

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