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Sammelband «Plantae»
7,5 Kilogramm und 1900 Seiten: Das unglaubliche Lebenswerk eines Zürcher Gärtners

Urs Luescher, Baumschulist und Gartenbaumeister in Arni AG, hält sein Kompendium über 4000 Pflanzen in einem Gewächshaus.
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In Kürze:
  • Der Zürcher Baumschulist Urs Lüscher gewinnt mit seinem vierbändigen Pflanzenwerk einen internationalen Preis.
  • Während zwanzig Jahren dokumentierte er Tausende Schweizer Gartenpflanzen.
  • Seine Familie unterstützte das Projekt durch Recherchereisen in botanische Gärten weltweit.
  • Das Fachbuch enthält wertvolle Praxiserfahrungen aus dem Gartenbau-Familienunternehmen.

Kaum zwei Wochen nachdem das Buch die Druckerei verlassen hat, steht Urs Lüscher auf Schloss Dennenlohe in Deutschland auf einer Bühne. Es ist die Verleihung des deutschen Gartenbuchpreises, und Lüscher holt in der Sparte «Spezialauszeichnung» den dritten Platz. Der deutsche Gartenbuchpreis ist ein jährliches Stelldichein der Branche, viele der anwesenden Autoren und Verlagsleute kennen sich – seit Jahren schreiben sie Bücher zu Gartenthemen oder geben diese heraus. Lüscher kennt man nicht.

«Plantae», Lateinisch für «Pflanzen», ist das erste Buch des Baumschulisten und Gartenbauunternehmers aus Zürich und es ist «eine Publikation, die ihresgleichen sucht», wie die Jury ihre Wahl begründet. 7,5 Kilogramm wiegt Lüschers Werk. Es umfasst, aufgeteilt auf vier Bände, nicht weniger als 1908 Seiten.

Lüscher steht leicht verlegen im Scheinwerferlicht, während der elfjährige Sohn die Preisübergabe fotografiert. Er habe ein Buch mit dem Erfahrungsschatz aus der gärtnerischen Praxis herausgeben wollen, etwas, das es in dieser Form noch nicht gebe, erzählt Lüscher. Dann erfährt man noch, dass er vier Kinder hat und zusammen mit seinem Bruder eine Baumschule und ein Gartenbaugeschäft mit über 70 Angestellten leitet. 

Der Eukalyptus warnt die anderen Bäume

Wie bloss kann man neben einem solchen Pensum noch fast 2000 Seiten schreiben? Die persönliche Motivation für ein solches Werk sei unvorstellbar, konstatiert auch der Zürcher Landschaftsarchitekt Walter Vetsch im Vorwort.

Urs Luescher schneidet einen Baum in einer Baumschule in Arni AG, Birmensdorf. Er ist ein erfahrener Gartenbaumeister und Autor eines Kompendiums über 4000 Schweizer Gartenpflanzen.

Ein paar Tage später in Lüschers Baumschule in Aesch bei Birmensdorf ZH. Es sei halt gerade Hochsaison bei ihnen, sagt er beinahe entschuldigend mit Blick auf die vielen Bäume, die herumstehen. In den Gewächshäusern treffen wir auf grosse Eukalyptusbäume, von denen er zweimal wöchentlich für die Koalas des Zürcher Zoos Äste schneidet. Mit den Eukalyptus hat Lüscher schon Erstaunliches erlebt: Als er 2015 mit der Futterproduktion anfing, meldete der Zoo, die Koalas hätten die Blätter erst gern gefressen, jetzt aber nicht mehr.

Lüscher war zuerst ratlos, hatte dann aber eine Vermutung: Wird in einem Gewächshaus ein Eukalyptus geschnitten, warnt dieser via Duftstoffe die anderen Bäume in seiner Umgebung. Um sich vor dem Fressfeind zu schützen, lagern diese in ihren Blättern während rund einer Woche Bitterstoffe ein. Um den Koalas immer wohlschmeckende Eukalyptusblätter liefern zu können, sind die Bäume deshalb in verschiedene Gewächshäuser verteilt. Dass Pflanzen via Duftstoffe miteinander kommunizieren, ist wissenschaftlich erwiesen, «doch dies so direkt zu erleben, hat mich sehr beeindruckt», sagt Lüscher.

Was Pflanzen alles können, sieht Lüscher in der Baumschule

Darin lag ein erster Grund für Lüschers Antrieb, das Buch zu schreiben: in den Pflanzen selbst, was sie alles können, wie sie sich anpassen, weil sie so schön und vielfältig sind. Der zweite Grund: Lüscher ist, seit er denken kann, von Pflanzen umgeben.

Drei Bücher von Urs Luescher über 4000 Pflanzen in Schweizer Gärten auf einem Holztisch in einem Gewächshaus. Die Titel: ’PLANTAE’.

In der von seinem Grossvater gegründeten Gärtnerei haben sich Lüscher und seine zwei Geschwister mit Jäten und Pflanzenvermehren Sackgeld verdient. «Solche Arbeiten sind repetitiv, sie lehren einen Geduld», sagt Lüscher im Rückblick.

Er macht die Ausbildung zum Baumschulisten und liest in der Freizeit Bücher von Pflanzensammlern, etwa vom englischen Botaniker Ernest Henry Wilson, der vor über einem Jahrhundert viele Pflanzen aus China nach Europa brachte. «Manchmal denke ich, ich hätte gerne vor 150 Jahren gelebt», sagt Urs Lüscher, «das muss eine unglaublich spannende Zeit gewesen sein, in der es noch so viel zu erforschen gab.» 

Die tagtäglichen Erfahrungen eines Praktikers

Nach Lehr- und Wanderjahren steigt er in den Familienbetrieb ein. Irgendwann in dieser Zeit entsteht der Wunsch, ein Buch über Pflanzen zu schreiben. Da ist sein ungebrochenes Interesse an Pflanzen. Da ist aber auch das Gefühl, dass Gärtner ihr grosses Wissen aus der Praxis häufig zu wenig achten und daher selten zu Papier bringen. «Die Stimme eines Praktikers darf auch gehört werden», sagt er. Gerade zu aktuellen Themen wie Biodiversität und Städtekühlung sammeln Gärtner in ihrer Arbeit tagtäglich wichtige Erfahrungen. 

Urs Luescher, ein Baumschulist und Gartenbaumeister, inspiziert einen Baum in einer Baumschule in Arni AG, umgeben von weiteren Bäumen und Gartenbauausrüstung.

So fing Urs Lüscher vor zwanzig Jahren an: zuerst zu fotografieren und die Bilder systematisch abzuspeichern, dann zu schreiben. «Ich hatte keine Ahnung, wie umfassend das Buch werden soll.» Er schrieb einfach. Jeden Morgen, kurz vor sechs Uhr, wenn sein Tag im Büro beginnt, widmete Urs Lüscher sich eine halbe Stunde seinem Buchprojekt. Und abends, um den Tag ausklingen zu lassen, gönnte er sich nochmals das Beschreiben von ein bis zwei Pflanzen. 

Daneben erweitert er zusammen mit seinem Bruder das Unternehmen von 18 auf 75 Mitarbeitende und seine vier Söhne kommen auf die Welt. Die Familie wird von Beginn Teil des Buchprojektes und begleitet Lüscher in Parkanlagen und Arboreten. Über viele Jahre sind Familienferien immer auch Recherchereisen, darauf ausgerichtet, Exemplare seltener Pflanzen zu finden, sie zu beschreiben und zu fotografieren.

Extra nach Boston gereist

Unvergessen ist der Besuch des Botanischen Gartens in Stockholm, bei dem Lüscher «ein grosses Highlight» erlebt, wie er sich erinnert: Zum ersten Mal sieht er den Kopf-Zwergginster blühen. Weil es stark windet, bildet die Familie als Windschutz einen Kreis um die Pflanze, damit Lüscher gute Bedingungen zum Fotografieren hat. 2019 reist die Familie extra nach Boston, um das weltberühmte Arnold-Arboretum an der Harvard University zu besuchen.

Zu diesem Zeitpunkt ist die Freude an Pflanzen längst auch auf seine Söhne, vor allem die älteren beiden, übergeschwappt. Der älteste Sohn, ebenfalls Baumschulist, kriecht mit seinem Vater unter jeden Strauch. Der zweitälteste hat seine Berufswahl ebenfalls in der grünen Branche getroffen und ist gelernter Gartenbauer.

«Vieles lässt sich nicht einfach so googeln»

Um das Mammutprojekt ins Ziel zu bringen, übernimmt schliesslich seine Frau Claudia eine entscheidende Rolle. Der Kontakt zum Verlag, Fleissarbeit in Form von Literaturüberprüfungen, die Koordination mit Fachlektoren und andere administrative Aufgaben werden von ihr gemanagt. Als der Verlag als Ergänzung zu den Pflanzenbeschreibungen auch noch ein ABC der gärtnerischen Fachbegriffe vorschlägt, schreibt Lüscher auch noch ein solches. Anfang 2025 schliesslich steht er in der Druckerei in Birmensdorf neben dem Förderband und schaut zu, wie Seite um Seite auf Papier kommt. Ein emotionaler Moment.

Nebst der Jury des Gartenbuchpreises reagiert auch die Fachwelt positiv auf Lüschers Werk. Ein Meilenstein sei es, sagt etwa eine Lehrperson für Berufskunde in der grünen Branche, «ein Statussymbol in jeder Fachbibliothek». Der Wert dieses Buches, so eine Landschaftsarchitektin, liege im Praxiswissen, das darin eingeflossen sei. «Da kommt man nicht so einfach heran, vieles davon lässt sich nicht so einfach googeln.»

Irgendwann wird Lüscher dieses Praxiswissen weiter ausbauen. Dann, wenn seine beiden älteren Söhne in den Betrieb einsteigen, er Verantwortung abgeben und wieder in den Gewächshäusern und Pflanzflächen verschwinden kann. Abtauchen zwischen den Pflanzen, vermehren, züchten, ausprobieren – ganz der Praktiker, den er trotz Buch und Büro immer auch geblieben ist.