Pilotprojekt in Schweizer Spital«In ein paar Jahren fliegt uns das ganze Pflegesystem um die Ohren»
In der Pflege herrscht Notstand. Deshalb rekrutiert René Mangold Fachpersonal aus den Philippinen. Das kommt nicht bei allen gut an.
Früher raste er als Bobfahrer die steilsten Bahnen hinunter, heute rekrutiert er für die Schweizer Spitäler Pflegefachkräfte auf den Philippinen. «Faire Anwerbung» steht in der Signatur, wenn René Mangold eine E-Mail verschickt. Der St. Galler hat schon vielen Kliniken und Altersheimen Pflegerinnen und Pfleger vermittelt, vor allem in Deutschland und Österreich. «Dort hat man das Problem erkannt und darauf reagiert», sagt er.
Mit Problem meint er den Notstand in der Pflege. Bis 2040 werden gemäss einer Studie der Wirtschaftsprüfungsfirma PWC rund 40’000 Pflegekräfte in der Schweiz fehlen. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) prognostiziert bis 2029 eine Zunahme des Personalbedarfs von 14 Prozent in den Spitälern, 19 Prozent bei der Spitex und 26 Prozent in den Alters- und Pflegeheimen.
Nach 18 Monaten müssen sie gehen
Wie soll dieser Notstand behoben werden? Wer soll sich in der Zukunft um die Alten und Gebrechlichen kümmern? Im Kantonsspital Baselland nehmen demnächst sieben Pflegefachkräfte aus den Philippinen ihre Arbeit auf, vier von ihnen sind diese Woche in der Schweiz angekommen. Das bestätigt Sprecherin Anita Kuoni: «Wir können den philippinischen Kollegen und Kolleginnen Erfahrung in unserem Spitalalltag, attraktive Anstellungsbedingungen und den Einblick in unsere Kultur bieten, und umgekehrt gewinnen wir für eine begrenzte Zeit qualifizierte Fachkräfte und lernen ebenfalls deren Kultur und Denkweise kennen.»
René Mangold begleitet das Projekt in Baselland. Doch es gibt Hindernisse: Nach 18 Monaten müssen die Arbeitskräfte das Land wieder verlassen. Ein weiterer Zugang zum Schweizer Arbeitsmarkt ist ausgeschlossen und Teilzeitarbeit nicht erlaubt. So sieht es das sogenannte Stagiaire-Abkommen vor, das die Schweiz mit 14 Ländern unterhält.
2023 wurden auf dieser Grundlage 237 Aufenthalts- und Arbeitsbewilligungen erteilt, die meisten an Staatsangehörige aus Kanada, gefolgt von Tunesien und den Philippinen. Die meisten Zulassungen erfolgten in den Bereichen Hotellerie, Gesundheitswesen und Architektur, wie das Staatssekretariat für Migration (SEM) mitteilt. Am Universitätsspital Zürich (USZ) arbeiten im Rahmen des Stagiaire-Abkommens momentan zwei Mitarbeitende aus Tunesien. Das USZ teilt mit, dass es fixe Pflegefachpersonen derzeit ausschliesslich in Deutschland und Österreich rekrutiere.
Doch die Schweiz wird den Bedarf mit Personen aus der EU kaum decken: Fachkräfte fehlen auch dort. Die EU-Kommission geht davon aus, dass bis 2030 in der EU etwa sieben Millionen Stellen für Fachkräfte im Gesundheitswesen offenbleiben. Deutschland hat deshalb im letzten Sommer eine Reform des Einwanderungsgesetzes für Fachkräfte beschlossen und wirbt jetzt erstmals weltweit um Pflegerinnen und Pfleger.
An der Berliner Charité etwa, einer der grössten Universitätskliniken in Europa, arbeiten mehr als 100 Pflegekräfte, die aus den Philippinen stammen. Das sagt Sprecher Markus Heggen und fügt an: «Sie sind sehr engagiert, besonders höflich und gehen sehr zugewandt und empathisch mit den Patienten und Patientinnen um.»
Und die Schweiz? Sie müsse sich mit diesem Problem unbedingt befassen, sagt Mangold. «In ein paar Jahren fliegt uns das ganze Pflegesystem um die Ohren, wenn die pensionierten Babyboomer keinen Platz mehr finden im Spital.» Auch Eduard Gnesa, der frühere Direktor des Bundesamts für Migration und Botschafter für internationale Migration, sagte kürzlich gegenüber dieser Redaktion: «Ich befürchte, die Schweiz wird zu spät kommen.»
«Ein demografisches Problem»
Doch ist es nicht unethisch, Personal aus Ländern abzuziehen, die dann dort fehlen? Das kritisiert der Pflegeverband. Doch Mangold verweist darauf, dass auf den Philippinen mit 115 Millionen Einwohnern viel mehr junge als alte Menschen leben – umgekehrt als in der Schweiz. «Dort brauchen sie Jobs, hier brauchen wir Arbeitskräfte.» Win-win, sagt er und zückt sein Smartphone. Er zeigt zwei Bevölkerungspyramiden, die ziemlich unterschiedlich aussehen. Jene der Schweiz ist unten schlank und oben breiter – es gibt also mehr ältere als junge Menschen. Bei den Philippinen ist es umgekehrt.
Mangold sagt: «Das Problem ist nicht politisch, sondern demografisch.» Der ehemalige Spitzenathlet strahlt Geduld aus. Aus dem Sport wisse er, wie wichtig das Dranbleiben sei. Er kennt die Philippinen schon lange. Nach der Matur bereiste er erstmals das Land, das ihn bis heute fesselt. «Die Menschen dort haben eine einfühlsame und ruhige Art, sie sind sehr sozial und anpassungsfähig.» Älteren Menschen begegne man in der dortigen Gesellschaft mit grosser Wertschätzung.
Er rekrutiert nicht nur in der philippinischen Hauptstadt Manila, sondern auch im Süden und auf den Inseln an den Rändern des Landes. Auf seine langjährige Aufbauarbeit ist er stolz: «Alle Pflegerinnen und Pfleger aus den Philippinen sprechen Deutsch auf B2-Niveau, denn sie absolvieren einen elfmonatigen Intensiv-Deutschkurs, bevor sie nach Europa kommen.» Zudem hätten alle mindestens eine Bachelorausbildung in der Pflege gemacht, viele verfügten auch über einen Masterabschluss.
Mangolds Firma Lmcare im Kanton Schwyz übernimmt die ganze Organisation, vom Anerkennungsverfahren mit allen Dokumenten über die Flugbuchung und die Einreise bis zur Betreuung. Bei den Bewerbungsgesprächen über Zoom ist Mangold jeweils anwesend.
Seine Rechnung könnte aufgehen. Immer mehr Kliniken und Spitäler interessieren sich für Pflegefachkräfte aus Drittstaaten. Auch das Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) in Nottwil teilt mit: «Wir können uns grundsätzlich vorstellen, Pflegefachpersonen aus den Philippinen zu rekrutieren. Wir evaluieren Partnerschaften mit Organisationen, die Pflegefachkräfte im Ausland rekrutieren.»
Kritik am Pilotprojekt
Die Rekrutierung von Pflegerinnen und Pflegern in Drittstaaten ruft allerdings auch Kritik hervor. GLP-Nationalrat Patrick Hässig, selbst gelernter Pflegefachmann, sagt etwa: «Wir müssen mehr Personal ausbilden in der Schweiz (Pflege sowie Ärzteschaft) und die Arbeitsbedingungen für das Gesundheitspersonal so gestalten, dass sie gerne im Job verbleiben.»
Ähnlich sieht es SP-Nationalrätin Farah Rumy, ebenfalls gelernte Pflegefachfrau: «Die Herausforderung besteht darin, dass Personen aus dem Ausland für einen kurzen Zeitraum in die Schweiz kommen, ihr Leben komplett umstellen und anschliessend in ihre Heimatländer zurückkehren müssen.» Für das bestehende Pflegepersonal, das bereits an seiner Belastungsgrenze arbeite, bedeute das in der Einführungszeit einen erheblichen zeitlichen und logistischen Aufwand.
Zudem seien die genauen Kosten, die Fachkräfte aus dem Ausland generierten, nicht bekannt. «Selbst wenn diese Menschen nach der Einführungszeit in der Pflege voll einsatzfähig sind, besteht der optimistisch berechnete Mehrwert nur für wenige Monate.» Die Nationalrätin fordert stattdessen, die Gelder für das bestehende Personal aufzuwenden und seine Arbeitsbedingungen zu verbessern.
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