Initiative «allgemeiner Wohlstand»Chinas Marxismus-Vorstoss dürfte der Uhrenindustrie nützen
Die chinesische Regierung bedrängt Reiche, um den Mittelstand zu stärken. Hersteller und Branchenkennerinnen rechnen damit, dass die Uhrenindustrie davon profitiert.
Erst verschärfte das kommunistische Regime seinen Kurs gegen chinesische Technologiegiganten wie Alibaba und Tencent. Dann waren wohlhabende Bürger wie Alibaba-Gründer Jack Ma, bekannte Schauspielerinnen wie Zhao Wei und sogar junge Computerspieler an der Reihe.
Was auf den ersten Blick wie willkürliche Aktionen gegen unbequeme Personen aussah, ergibt seit dem Sommer Sinn. Machthaber Xi Jinping kündigte im August die Initiative «allgemeiner Wohlstand» an. Das Schlagwort ist politisch aufgeladen, es geht auf Staatsgründer Mao Zedong zurück.
Mit weitreichenden Eingriffen in die Wirtschaft und die Gesellschaft soll die Lücke zwischen Arm und Reich geschlossen werden. So soll sich die Jugend weniger mit Computerspielen beschäftigen und ihre Zeit dazu nutzen, zum Wohlergehen beizutragen.
Chinesische Konzerne ordnen sich unter
Firmen und Unternehmer sollen mehr an die Gesellschaft zurückgeben. Alibaba und Tencent haben sich bereits dazu verpflichtet, umgerechnet über 15 Milliarden Franken an die Initiative zu zahlen. Und glamouröse Unterhaltungskünstlerinnen sollen nicht vom Personenkult um Xi Jinping ablenken.
Um ihre Ziele zu erreichen, verstärkt die chinesische Führung die Propaganda an den Schulen: Junge Menschen sollen lernen, «den Glauben in den Marxismus aufzubauen und das Vertrauen in den Weg, die Theorie, das System und die Kultur des Sozialismus chinesischer Prägung zu stärken».
Die schärfere Gangart gegenüber den Reichen in China macht exportorientierte Wirtschaftszweige wie die Schweizer Uhrenindustrie hellhörig. Anlegerinnen und Anleger fühlen sich damit unwohl, wie die Aktienkurse der Swatch Group und von Richemont zeigen. Die Kurse sind nach den Verlautbarungen aus Peking eingebrochen.
Der Grund für die Nervosität: China ist zum grössten Absatzmarkt avanciert. Von Januar bis August betrug der Exportwert von Schweizer Uhren dorthin 1,9 Milliarden Franken. Im Vergleich zur Periode vor der Pandemie im Jahr 2019 bedeutet das eine Zunahme von knapp 63 Prozent.
Weil sich China rasch von der Corona-Krise erholt hat, spielt das Land eine wichtige Rolle für die Erholung der gebeutelten Branche mit ihren schweizweit 49’000 Angestellten.
«Die Ausgaben der Chinesen machen etwa 50 Prozent des weltweiten Luxuskonsums aus», sagte Jörg Wuttke, Präsident der Handelskammer EU-China, gegenüber dem britischen TV-Sender BBC. «Und wenn Chinas Reiche beschliessen, weniger Schweizer Uhren, italienische Krawatten und europäische Luxusautos zu kaufen, werden diese Branchen einen Rückschlag erleiden.»
Böse Erinnerungen an die Luxussteuer
Erinnerungen an die chinesische Konsumsteuer auf Luxusgüter werden wach, welche im Jahr 2006 eingeführt wurde und seither die Verkäufe von edlen Schweizer Uhren beeinträchtigt. Als Geschenke an die Funktionäre der Kommunistischen Partei im Austausch für Gefälligkeiten waren die Uhren zum Sinnbild für chinesische Korruption geworden. Mit der Luxussteuer sollten Bestechungsversuche erschwert werden.
Bei der Swatch Group mit Marken wie Swatch, Omega und Tissot heisst es, die neuen Vorgaben aus Peking hätten aktuell keine Auswirkungen auf die Verkäufe im Reich der Mitte. Vielmehr stärke die Initiative den Mittelstand und das sei als «sehr positiv» zu werten.
Worauf der weltgrösste Uhrenhersteller mit Sitz in Biel hinaus will: Eine kaufkräftigere Mittelschicht wird sich Luxus gönnen wollen und dafür Geld für teure Schweizer Uhren ausgeben. Sie wird das vor allem auf Reisen machen, etwa in die Sonderverwaltungszone Hongkong oder die aufstrebende Ferienprovinz Hainan, wo Steuererleichterungen für Luxusprodukte gelten.
Es mag widersprüchlich klingen: Ausgerechnet marxistische Wirtschaftspolitik soll marktwirtschaftlich ausgerichteten Unternehmen aus dem Westen helfen, Geld zu verdienen.
«Mittelschicht sollte gestärkt werden»
Doch Branchenkenner teilen die Einschätzung der Swatch Group: «Luxusgüter werden von den ganz Reichen gekauft, aber die noch bedeutendere Käuferschaft ist die Mittelschicht», sagt Patrik Schwendimann, Finanzanalyst der Zürcher Kantonalbank. «Die Mittelschicht sollte durch diese Massnahmen der Regierung eher gestärkt werden.»
Die Initiative werde «positive Auswirkungen für die wachsende Mittelschicht haben, und damit auch für Hersteller von erschwinglichen Luxusgütern», sagt Jean-Philippe Bertschy von der Zürcher Privatbank Vontobel. Der Genfer Luxusgüterkonzern Richemont mit Marken wie IWC und Baume & Mercier liess Anfragen dieser Zeitung unbeantwortet.
Eine aktuelle Studie des US-Finanzdienstleisters Morgan Stanley vom September zu den Folgen der Initiative auf die Schmuckbranche lässt tatsächlich den Schluss zu, dass die Luxusgüterindustrie profitieren wird. «Entgegen den Befürchtungen des Marktes glauben wir, dass die meisten Käufer von Schmuck aus der Mittelschicht stammen, die unter dem allgemeinen Wohlstand wachsen wird», schreiben die neun Autorinnen und Autoren.
«Unsere jüngste Umfrage deutet darauf hin, dass die Konsumenten kurz- bis mittelfristig mehr für Schmuck ausgeben wollen, hauptsächlich für den persönlichen Gebrauch und nicht zum Verschenken», heisst es weiter. Für die Studie haben die Analysten von Morgan Stanley knapp 2700 Chinesinnen und Chinesen befragt.
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