Paul Lynchs neuer RomanWie Irland ein totalitärer Staat wurde
Der irische Autor spielt in «Das Lied des Propheten» auf beklemmende Weise durch, wie schnell Demokratie und Rechtsstaat verloren gehen können. Dafür erhielt er den Booker-Preis.

- Paul Lynchs Roman beschreibt Irlands Verwandlung in einen totalitären Staat.
- Hauptfigur Eilish Stack erlebt als Lehrergewerkschafterfrau den Machtzuwachs einer rechtspopulistischen Partei.
- Familienleben und Alltag werden durch Verhaftungen und Eskalationen erschüttert.
- «Das Lied des Propheten» ist ein beklemmendes Leseerlebnis, das einen lange verfolgt.
Es beginnt harmlos, mit einem abendlichen Klopfen an der Haustür. Erst hat sie es überhört, aber dann wird es drängender, «ein Klopfen so voll vom Klopfenden erfüllt, dass sie die Stirn runzelt». Eilish öffnet, zwei Polizisten fragen nach ihrem Mann Larry, einem Funktionär der Lehrergewerkschaft, er soll sich umgehend melden. Danach spürt sie: Es ist etwas Dunkles ins Haus gekommen. Dieses Dunkle wird bleiben und immer dunkler und bedrohlicher werden.
Der irische Autor Paul Lynch erzählt in seinem Roman «Das Lied des Propheten» davon, wie sich ein demokratisches Land in einen totalitären Staat verwandelt. Genauer: wie Eilish Stack das erlebt, Mikrobiologin, verheiratete Mutter von vier Kindern, der von Tag zu Tag der Boden des Vertrauten unter den Füssen weggezogen wird und sie nur immer reagieren kann, ohne dass ihr Bewusstsein wirklich mit den neuen Realitäten Schritt halten kann.
Eine rechtspopulistische Partei ergreift die Macht in Irland
Das Land, das Lynch beschreibt, ist keine ferne Dystopie, sondern Irland, Teil der Europäischen Union, die Zeit Gegenwart, die Erzählzeit Präsens. Eine rechtspopulistische Partei hat die Wahlen gewonnen, ihre Macht wird schnell absolut. Mittels Notstandsverordnungen hebelt sie Verfassung und Grundrechte aus. Gegner, ob echt oder vermeintlich, werden verhaftet, auch Larry verschwindet nach einer Demonstration. Anwälte werden eingeschüchtert, auf eine Protestkundgebung schiesst das Militär mit scharfer Munition. Der Widerstand eskaliert zur offenen Rebellion, es kommt zum Bürgerkrieg, Dublin zerfällt in zwei Zonen, die Regierung bombardiert die eigene Hauptstadt.
Mittendrin Eilish und ihre Familie, die zusammenzuhalten ihre ganze Kraft erfordert. Als Frau eines «Verschwundenen» wird sie zur Aussätzigen; der Metzger bedient sie nicht mehr, regimetreue Schläger demolieren ihr Auto, schmieren «Verräter» an die Hauswand – denn ein grosser Teil der Iren folgt so begeistert wie verhetzt dem neuen Kurs. Das Land verlassen will Eilish nicht, obwohl ihre Schwester in Kanada sie inständig anfleht: «Die Geschichte ist eine stumme Liste derer, die nicht wussten, wann sie gehen müssen.»
Der demente Vater sieht klarer, was vor sich geht
Aber Eilish hofft noch: Wird der Spuk nicht bald vorbei sein? Und muss sie nicht warten, dass Larry aus der Haft zurückkehrt? Oder Mark, ihr Ältester, der zu den Rebellen gegangen ist? Und kann sie ihren dementen Vater zurücklassen (der in aller Demenz viel schärfer erkennt, was im Land vor sich geht)?
Erst als sie auch noch Barry, ihren Dreizehnjährigen, verliert – die Umstände sind zu scheusslich, um sie hier zu erzählen –, entschliesst sich Eilish zur Flucht. Die stellt sich als unendlich mühsamer, demütigender Weg dar, mithilfe von Schleusern, über Nordirland, das auch keine rühmliche Rolle spielt, bis ans Meer. Was danach auf sie wartet, lässt der Autor offen.
Der unerbittliche Rhythmus der Sätze
Wir sind Eilish lesend gefolgt vom ersten Klopfen bis zum Schlauchboot an der Küste. Lesend und atemlos, vorangetrieben vom unerbittlichen Rhythmus der Sätze Paul Lynchs, die wiederum von der Unerbittlichkeit der Ereignisse diktiert werden: dem Zwang der Mutter, auf jede neue Zumutung zu reagieren, ihre bedrohte Familie und ihre eigene innere Stabilität zu erhalten, den kleineren Kindern die schlimmsten Wahrheiten zu ersparen, die älteren von den grössten Dummheiten abzuhalten, für Milch und Wasser zu sorgen, das Baby zu wickeln, die richtigen Entscheidungen zu treffen und angesichts dessen, was da passiert, nicht verrückt zu werden.
Für Eilish driften zwei Realitäten auseinander: die vertraute, in der Kinder spielen, Eltern ihrer Arbeit nachgehen, Gesetze gelten und der Staat seine Bürger schützt, und die neue, in der «der Staat zum Monster geworden ist», der den Menschen alles antun kann, was er will. In dieser Welt weiter dem gewohnten Alltag nachzugehen, einzukaufen, die Kinder zur Schule zu schicken, erscheint Eilish zunehmend irreal – so wie es uns beim Lesen ergeht, wenn wir das Buch kurz aus der Hand legen und uns unserem Schweizer Alltag widmen, der so wunderbar normal, geschützt, demokratisch verfasst ist, sodass wir blinzeln müssen, weil wir gerade aus der düster intensiven Welt des Romans auftauchen.
Erfinden musste Paul Lynch für dieses fiktive Irland nichts
Warum macht Paul Lynch das? Ist es ein literarisches Spiel, um unsere Vorstellungskraft anzuregen? Will er uns Angst machen? Nun: Erfinden musste er für dieses Irland eigentlich nichts. Er musste sich bloss ein bisschen umschauen in andere Regionen und zusammentragen, was etwa in Hongkong, Belarus, Syrien, Jugoslawien und anderswo in jüngster Vergangenheit geschehen ist und geschieht. Gewerkschafter, die spurlos verschwinden? Anwälte, die selbst verhaftet werden, wenn sie ihre Klienten betreuen? Scharfschützen, die auf Fussgänger zielen? Schulkinder, die gefoltert und ermordet werden? Das muss sich kein Schriftsteller ausdenken. Und das Flüchtlingselend schon gar nicht.
Paul Lynchs Irland ist plausibel. Auch, dass sich die übrige Welt auf passive Empörung beschränkt – und das Übliche, Sanktionen ohne Wirkung, Verhandlungen ohne Ergebnis – und das Regime weiter die eigenen Bürger massakrieren lässt. «Das Ende der Welt ist immer ein lokales Ereignis», konstatiert Eilish bitter, «für alle anderen nur ein kurzer Bericht in den Nachrichten.»
Wir sind in dieser Prosa so eingesperrt wie Eilish in ihre totalitäre Umgebung
Literarisch glaubhaft wird Lynchs Irland aber erst durch seine Prosa: eine Prosa, die absatzlos über mehrere Seiten treibt, deren Dialoge ohne Satzzeichen mit der Umgebung verschmelzen, deren Sätze die Getriebenheit der Hauptfigur aufnehmen und weitergeben. Wir, die wir das lesen, sind in diese Präsens-Prosa so ausweglos eingesperrt und vorangetrieben wie Eilish in ihre totalitäre Umgebung und in die Flut der Ereignisse.
«Das Lied des Propheten» ist ein beklemmendes Leseerlebnis, das einen lange verfolgt. Ein politischer Warnruf, dass auch in unseren Breiten Dinge möglich sind, die wir uns nicht vorstellen mögen. Und ein literarisches Meisterwerk, das mit Recht den Booker-Preis 2023 gewonnen hat.

Paul Lynch: Das Lied des Propheten. Roman. Aus dem Englischen von Eike Schönfeld. Klett-Cotta, Stuttgart 2024. 310 S., ca. 35 Fr.
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