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Neuer Roman des Bestsellerautors
Mit diesem Buch geht Arno Geiger Wagnisse ein – und gewinnt

*** EXKLUSIV *** Vienna, Austria - January 4, 2018: News / Menschen - Interview mit Arno Geiger (* 22. Juli 1968 in Bregenz, Vorarlberg) ist ein oesterreichischer Schriftsteller. Photo: Matt Observe. erschienen in News 01/02/18 Redakteur: Susanne Zobl Roman "Unter der Drachenwand" .erschienen in Heft 16/18.Redakteur: David Pesendorfer (KEYSTONE/APA/Matt Observe)
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«Der alte König in seinem Exil», Arno Geigers Buch über seinen dementen Vater, hat Hunderttausende im tiefsten Inneren berührt, weil sie Ähnliches mit Angehörigen erlebt haben, es aber nie so hätten ausdrücken können. Auch Geigers neuer Roman erzählt von einem alten König im Exil.

Der Held von «Reise nach Laredo» ist Karl V. (1500–1558), jener Kaiser, in dessen Reich «die Sonne nicht unterging», der aber in den letzten beiden Lebensjahren dieses Reich an seine beiden Söhne übergab und sich, von Gicht und trüben Gedanken geplagt, ins Kloster Yuste in die spanische Extremadura zurückzog, um sich in diesem selbst gewählten geistlichen Exil dem Gebet und der Selbsterkenntnis zu widmen.

Ein historischer Roman? Jedenfalls weit weg von der Familiengeschichte, weit weg auch vom autobiografischen Vorgänger, dem «glücklichen Geheimnis», in dem Geiger von seinen Fischzügen durch Wiener Papiermülltonnen erzählte. Dort hatte er auch sein Stilideal des Unverfälschten, Unverstellten, ja Unbeholfenen formuliert, ein Plädoyer gegen Prunk und Perfektion, und dies sieht man im neuen Roman verwirklicht.

Monasterio de Yuste, Monastery at Cuacos de Yuste, La Vera, Extremadura, Spain. (Photo by: Geography Photos/Universal Images Group via Getty Images)

Historische Romane suhlen sich gern in Üppigkeit des Dekors, schwelgen in ausführlichen Beschreibungen. Nichts davon hier. Karg geht es zu, landschaftlich wie stilistisch. «Das war kein Land, das war Raum, das war Leere, etwas, das sich permanent selbst auslöschte kraft der eigenen Weite. Das Gegenteil von Fülle. Man sah nicht in etwas hinein, man sah hindurch. Dahinter wieder das gleiche, also nichts.»

Da sind wir aber schon unterwegs durch die spanische Meseta, die öde Hochebene, und haben nachzutragen, wie es dazu gekommen ist. Geiger zeigt den mächtigsten Menschen der abendländischen Welt nicht auf dem Gipfel seiner Macht (wie ein klassischer Hofmaler oder -schreiber es getan hätte), sondern, nachdem er alle Macht abgelegt hat. In Yuste wartet ein auf 50 Personen geschrumpfter Rest-Hofstaat darauf, dass er endlich stirbt.

Der leibliche Körper des Königs ist ein Wrack

Von den «zwei Körpern des Königs» – nach der berühmten Definition des Historikers Ernst Kantorowicz, dem leiblichen und dem des Amtes – ist nur noch der des Menschen Karl übrig geblieben, weshalb die Hauptfigur auch nur mit Vornamen genannt wird. Dieser Körper ist ein Wrack, schon immer hässlich, jetzt entstellt durch Gicht, blutende Krampfadern, geplagt von Hämorrhoiden. Er braucht Spezialstühle und wird, in einer grandiosen Szene zu Beginn des Romans, mit einer Hebevorrichtung in ein heisses Bad hineingehoben.

Was ist dieser Karl ohne Amt und Würden? Das möchte er selbst gern wissen. Anderthalb Jahre hat er in Yuste schon darüber sinniert, mit seinem Beichtvater debattiert und ist zu keinem Ergebnis kommen. Auch was «Leben» eigentlich heisst, weiss er, ans Ende desselben gekommen, nicht: Das Seinige, ans König- und Kaisertum gebunden, bestand aus «Kriegsdrohungen, von Kriegen unterbrochen», das Verhältnis zu anderen Menschen war geprägt von Misstrauen, Betrug und Hinterlist.

«Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat», fährt ihm als Gedanke durch den Kopf. Und Arno Geiger schenkt seinem Helden ein Stück Leben – auch wenn es sich dabei wohl nur um einen Opiumrausch handelt, denn Karl nimmt Laudanum, die Modedroge des 16. Jahrhunderts, im Übermass. Ob der Mittelteil nun ein Fiebertraum (Karl hat überdies Malaria und wird auch daran sterben) oder real oder einfach Autorenfantasie ist: Das muss uns Leserinnen und Leser, dafür gibts eben grosse Literatur, zum Glück nicht kümmern.

Kaiser Karl V. (1500-1558
Künstler	
Christoph Amberger  (1505–1562)
Datum	etwa 1532

Kurz und gut: Karl schleicht sich nachts aus seinem Gemach, steigt auf ein Maultier (aufs Pferd schafft er es dann doch nicht mehr) und reitet zusammen mit dem 11-jährigen Geronimo, der sein Sohn ist, das aber nicht weiss, los. Und es beginnt, was in motorisierten Zeiten eine «Road Novel» wäre, im spanischen Spät-spät-Mittelalter aber unweigerlich an den «Don Quijote» erinnert. Oder an den Schelmenroman, der hier gerade erfunden worden ist: Der erste «Picaro», «Lazarillo de Tormes», erschien 1554, zwei Jahre vor unseres Karls Ausritt.

Das Glücksrad dreht sich eine Vierteldrehung zurück

Don Quijote, der fahrende Ritter, sieht sich ja als Beschützer von Witwen, Waisen und anderen Schutzlosen, und tatsächlich fällt auch Karl und seinem «Schildknappen» Geronimo alsbald diese Rolle zu, als sie sehen, wie ein junger Mann ausgepeitscht wird. Sie vertreiben mit Mut und Pistolen seine Peiniger und setzen die Reise mit ihm und seiner Schwester, ihrem Wagen und ihren Zugtieren fort. Honza und Angelita sind «Cagots», Rechtlose, die als «Kainsmal» Gänsefüsse tragen müssen und mit denen jeder machen kann, was er will. Ein Realitätsschock für den gewesenen Kaiser, dem weitere folgen.

In einer heruntergekommenen Schenke – auch ein Topos der Schelmenromane – säuft er mit dem Wirt und verliert an ihn beim Kartenspiel all sein Geld. Honza scheitert mit dem Versuch, seine Schwester mit einem krummen Deal gegen ein freies Leben einzutauschen. «Das Glücksrad drehte sich, bevor es stehenblieb, eine Vierteldrehung zurück und goss einen Schwall schieren Entsetzens über ihn.»

Schliesslich erreicht der Rest des Trupps Laredo, jene Hafenstadt im Norden, wo Karl zwei Jahre zuvor auf dem Weg ins Exil gelandet war, und er und Geronimo tauchen in die Wellen ein, wobei Geigers Prosa gleich wellenartig zu schwingen beginnt. Karls Körper, der schon auf der ganzen Traum-Reise Erstaunliches zuwege gebracht hat – Reiten, Tanzen, Prügeln –, wird ganz leicht, gibt sich dem Auf und Ab des Wassers hin. «Der Tod könnte schön sein, wenn man gelebt hat», denkt er noch mal, und nun hat der Satz einen anderen Sinn.

Die beiden Wagnisse Arno Geigers

Mindestens zwei Wagnisse ist Arno Geiger mit diesem Roman eingegangen. Das erste: den Kaiser als Jedermann zu zeigen, die Frage nach dem, was ein gelingendes, sinnvolles Leben ausmacht, an diese immense Fallhöhe zu binden. Denn immer wieder muss sich der gewesene Kaiser klarmachen, wie wenig er bewegt hat, wie wenig er kann, weiss, begreift von der Welt, die er doch angeblich beherrscht hat. Wie wenig er lebt im Vergleich zu dem Kind Geronimo, das sagt: «Wenn ich aufwache, sage ich mir, ich freue mich auf das, was ich tun werde. Und am Abend freue ich mich über das, was ich getan habe.»

Das zweite Wagnis ist der Stil. Geiger schreibt eine unangestrengte, vordergründig schlichte Prosa, die aber auf fast jeder Seite mit Wendungen und Formulierungen überrascht, die alles andere als «unverstellt» oder «unbeholfen» sind, sondern den Meister der Sprache zeigen, der er nun mal ist. Da ist eine «sich selbst langweilende Strasse». Natürlich kommen auch Windmühlen vor, die «sich mit ausgebreiteten Armen streckten, weil sie ihre Flügelarme nicht einziehen konnten». Oder ein letztes Beispiel: «Der Himmel hing so tief über der kahlen Erde, dass man den Kopf einziehen musste.»

Auch in der Perspektive zeigt sich der Könner: Geiger gleitet in seinen Helden hinein und ganz unmerklich wieder heraus. Er lässt ihn Dummes und Kluges äussern. Er gelangt zu zweifelhaften und bedenkenswerten Erkenntnissen.

Und schliesslich stirbt er zweimal, auch das ist im Roman natürlich möglich, denn am Schluss sind wir wieder in Yuste, im Präsens, im hektischen Gewimmel der Hofschranzen, und unser letzter Blick fällt auf eine junge Magd, die irgendwie verdächtig wirkt. Wir begreifen: Es ist Angelita aus der Binnenerzählung, der Opiumreise des sterbenden Kaisers. War es also doch kein Traum? In jedem Fall ist es: Wunderliche, wunderbare Literatur!

Arno Geiger: Reise nach Laredo. Hanser, München 2024. 272 S., ca 36 Fr.