Denis Scheck im InterviewDeutschlands härtester Literaturkritiker vernichtet Bücher, die andere lieben – warum?
Seine Gegenfrage: «Warum weigert sich Paulo Coelhos Tastatur nicht, wenn er tippt?» Scheck liest seit 20 Jahren die Bestsellerliste und sagt, was gute Literatur ist. Und was schlechte.
Für seine Sendung «Druckfrisch» bei ARD liest Denis Scheck jeden Monat im Wechsel die Top 10 der «Spiegel»-Bestsellerliste Belletristik oder Sachbuch. Er ist berüchtigt dafür, die schlechten Bücher in eine Tonne neben sich zu schmeissen. Er hat sie auch tatsächlich schon gepfählt oder in Milch schwimmen lassen.
Heute erscheint «Schecks Bestsellerbibel», in der er gute von schlechter Literatur trennt und fragt: Werden wir durch Bücher bessere Menschen? Können wir uns in sie verlieben und vielleicht sogar Gott in ihnen finden? Bei Scheck zu Hause wird man von Stubbs, dem Jack Russell Terrier aus dem Ruhrpott (er kennt sie alle: Günter Grass, Martin Walser oder Donna Leon) zur Begrüssung angebellt, dann kann das Gespräch aber beginnen.
Herr Scheck, seit zwanzig Jahren lesen Sie jeden Monat die Top Ten der «Spiegel»-Bestsellerliste. An der Spitze stehen oft absurd schlechte Bücher. Warum tun Sie sich das an?
Ich habe mir das Leben schwer gemacht, weil mich die Bestsellerliste zwingt, Dinge zu lesen, auf die ich gerne verzichten würde. Aber ich muss ganz ehrlich sein: Als man mir diese Sendung angeboten hat, wollte man eine Talkshow mit Günther Netzer, dem Papst und Ralf Schumacher, die auf dem Sofa sitzen, und ich sollte mit ihnen über ihre Bücher reden. Ich wollte diese Fernsehsendung, aber nicht um jeden Preis. Also war mein Angebot: Ich bespreche die 10 meistverkauften Bücher des Monats, das dauert 5 Minuten, und die restliche Sendezeit möchte ich mit Autorinnen und Autoren reden, deren Bücher ich als Literatur einordne.
Früher oder später schreiben Politiker, Schauspielerinnen oder Musiker alle ein Buch. So kommen wir in den Genuss von Sätzen wie dem von Oliver Kahn: «Die Trennung von meiner Frau hat nichts mit ihrer Person zu tun.»
Die ganze Welt spiegelt sich im Medium Buch. Eine gewisse Schadenfreude ist schon dabei, zu sehen, wie diese Prominenten scheitern. Oliver Kahn schätze ich als Sportler sehr. Ich bin ihm einmal in einem Hotel begegnet, und man nennt ihn nicht umsonst «den Titan». Er besass aber die Grösse, souverän mit meiner Kritik umzugehen, und sagte, es sei ihm unerklärlich, wie der Satz in sein Buch gekommen sei.
Sitzt das Lektorat bei solchen Manuskripten mit verbundenen Augen am Schreibtisch?
Was das Lektorat angeht, finde ich die kölsche Erkenntnis sehr bedenkenswert: «Du kannst aus einem Pisspot kein Mokkatässchen machen.» Das gilt es zu beherzigen.
Die Bestsellerliste zeigt nicht die besten, sondern die meistverkauften Bücher. Sie sagen, das sei der kleinste gemeinsame Nenner des Massengeschmacks – «Germany’s next top novels».
Ja, es gibt eine semantische Besonderheit im Deutschen: Der Gleichklang des Bestsellers und des Besten. Stellen Sie sich vor, Sie müssten die zehn meistverkauften Mahlzeiten zu sich nehmen. Sie ahnen es, das wäre ungeniessbarer Autobahnraststätten-Mampf. Oder die zehn meistverkauften Pullis tragen, das wäre dann irgendwas von einem Billig-Onlineshop. Wir wollen doch immer das Exklusive. Nur bei der Literatur wird es einem so verkauft, dass das meiste auch das Beste sei. Die Bestsellerliste dient als schnelle Orientierung. Zum Glück können aber auch Autoren wie Daniel Kehlmann jahrelang auf der Liste stehen. Und Autorinnen wie Julia Franck, Antje Rávik Strubel oder Jenny Erpenbeck mit dezidiert literarischen Werken.
«Als Kritiker möchte ich sagen: ‹Wir können das nicht durchwinken.›»
Gerade sind vier New-Adult-Bücher in den Top Ten. Die beschreiben Sie gerne als «grenzdebile Steinzeitprosa» oder «Hirnpest in Buchform». Sie lesen die alle fertig?
Ja. Ich begegne Autorinnen und Autoren früher oder später. Sie haben einen feinen Instinkt, ob ich es gelesen oder doch abgekürzt habe. Dieser Gang über dünnes Eis muss nicht sein. Die Fangemeinde kauft diese Schmöker sofort nach Erscheinen, und so kommen sie auf die Bestsellerliste. Im Normalfall verschwinden sie von dort nach zwei Wochen wieder und landen im Trash-Regal. Wenn sie aber länger auf der Liste stehen, brauche ich beim zweiten oder dritten Mal einen neuen Aspekt.
Man hört immer wieder: Hauptsache die jungen Menschen lesen wieder, egal was. Gilt das auch für diese Romantasy-Bücher, in denen Stereotype bedient werden, SM-Sexszenen vorkommen und die ästhetisch unauffällig geschrieben sind?
Auf jeden Fall ist Lesen besser, als nicht zu lesen. Ich bin aber schon der Meinung, dass man sich auf jedem Niveau blöd lesen kann. Mein Vergleich ist immer: Sagen Sie einem Sternekoch, «Hauptsache es wird gegessen». Sagt er Ihnen: «Nein, dafür bin ich nicht zuständig.» Als Kritiker möchte ich auch sagen: «Wir können das nicht durchwinken.»
Was empfehlen Sie stattdessen?
Ich bin ein grosser Harry-Potter-Fan. Dass es möglich ist, mit Romanen die ganze Welt noch in Bann zu schlagen, wie es Charles Dickens in seiner Zeit getan hat, zeigt ja auch, dass Romane nach wie vor das kollektive Bewusstsein erreichen und formen können. Oder Bestsellerautorin Cornelia Funke, sie hat für jedes Lebensalter Bücher geschrieben.
Was macht ein Buch schlecht?
Ein gutes Buch zeigt mir die Welt auf eine Weise, wie ich sie noch niemals gesehen habe. Ein schlechtes kopiert millionenfach gezeigte Sichtweisen, es ermüdet durch Klischees.
Die Bücher von Bestseller-Thrillerautor Sebastian Fitzek hassen Sie leidenschaftlich. Warum?
Och, meinen Hass habe ich eigentlich eher für Christa Wolf reserviert. Aber wir müssen uns immer vor Augen halten: Ich rede über Bücher, nicht über Menschen. Herr Fitzek ist bestimmt ein wunderbarer Mensch, aber seine Literatur löst in mir Ekel aus, weil er die Schwelle der Gewalt immer niedriger setzt. Ich habe vor jedem Thrillerautor Respekt und gar nichts gegen Unterhaltungsliteratur, das kann besser und weniger gut gemacht sein. Aber was mich bei Fitzek auf die Barrikaden treibt, ist die DNA seiner Romane, die als reine Gewaltpornos angelegt sind. Die absurden Handlungsbögen dieser Romane dienen nur zur Gewalteskalation. Gewalt kann durchaus ästhetisch motiviert sein, denken wir nur an Bret Easton Ellis’ Meisterwerk «American Psycho», aber bei Fitzek wird lediglich ein immer höherer Schockwert geliefert, um sich daran zu weiden und aufzugeilen. Das finde ich widerlich.
Sie brauchen ein Coelho-Buch nicht lange schütteln, um wirklich strunzdumme Sätze darin zu finden.
Was man Paulo Coelho nicht vorwerfen kann. Sie nennen ihn den «aus dem Urschleim der Erbauungsliteratur gekrochenen Einzeller der Esoterik».
Ich finde es sagenhaft, wie man mit solch unglaublichen Banalitäten und Spruchweisheiten ein Millionenpublikum begeistern kann. Sie brauchen ein Coelho-Buch nicht lange schütteln, um wirklich strunzdumme Sätze darin zu finden. Da muss sich ja eigentlich die Tastatur weigern, wenn er so etwas tippt. Ich kenne nichts Vergleichbares, vielleicht noch den Dalai Lama, der auch bemerkenswerte Flachheiten absondert, aber Coelho ist eine eigene Liga.
Haben Sie den Platz von Marcel Reich-Ranicki eingenommen?
Jeder, der das versucht, wäre schlecht beraten. Man muss sich im Leben schon seinen eigenen Platz schaffen. Meine Vorbilder stammen eher aus den 20er-Jahren und heissen Alfred Kerr, Alfred Polgar und Dorothy Parker. Von ihnen habe ich gelernt: Die schärfste Waffe eines Kritikers ist nicht der Verriss, sondern sein Schweigen, also das, was ich nicht zur Kenntnis nehme. Ansonsten gilt die Regel: Jedes Werk stellt die Massstäbe, nach denen es beurteilt werden möchte, selber auf.
Viele gute Bücher schaffen es nie auf die Bestsellerliste. Die Kulturberichterstattung schrumpft, Booktok übernimmt in den sozialen Medien. Aber Ihre gute Laune scheint ungetrübt. Warum?
Die Lyrikerin Emily Dickinson hat einmal geschrieben: «To multiply the harbors does not reduce the sea»: Die Zahl der Häfen zu vervielfachen, nimmt dem Meer nichts von seiner Grösse. Dass es nun Booktok oder das New-Adult-Genre gibt, davon nimmt die Literatur keinen Schaden. Jammern nützt nichts, wir müssen Banden bilden und selber Booktok machen.
Kulturpessimist sind Sie jedenfalls nicht.
Ich möchte möglichst viele Menschen mit meiner Leidenschaft für Bücher anstecken. Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit. Manchmal ertappe ich mich dabei, wie auch ich in dieses Loriot’sche Passepartout der Kulturkritik verfalle und «Früher war mehr Lametta» sage. Aber Literatur war nie eine Massenveranstaltung, umso schöner, wenn wir Massenphänomene wie J. K. Rowling oder Frank Schätzing haben.
Es vergehen keine fünf Minuten, ohne dass Herr Scheck ein Zitat aus der Weltliteratur parat hat.
Das täuscht. Da käme ich mir ja fast schon wie eine Karikatur vor. Kafka sagte, er bestehe aus nichts anderem als aus Literatur. Das ist bei mir nicht so; bei mir ist auch noch Platz fürs Kochen, für Musik, Malerei und andere wichtige Dinge. Ein gutes Gedicht ersetzt keinen guten Leberkäs.
Haben Sie sich schon richtig vertan und mussten Ihr Urteil korrigieren?
Gott sei Dank nicht so schlimm wie Marcel Reich-Ranicki, der Grass’ «Die Blechtrommel» beim ersten Erscheinen verrissen hat. Ich habe Philip Roths Roman «Sabbaths Theater» negativ besprochen. Diese Sexobsession, wie Sabbath auf dem Grab seiner Geliebten onaniert und dann über Hunderte von Seiten an ihren Schlüpfern riecht, da dachte ich: Roth, jetzt hast du es übertrieben, das ist mir zu viel! Im Nachhinein muss ich aber sagen, das ist ein ganz grosser Roman, da muss ich Abbitte leisten.
Angenommen, Sie gelangen mit Ihrem neuen Buch in die Top 10 der «Spiegel»-Bestsellerliste, sollte es eigentlich Sebastian Fitzek besprechen. Gute Idee?
Ja, aber fairerweise müsste ich zuerst Paulo Coelho fragen, ob er es machen möchte.
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