Mamablog: Flagge, Hymne und SchwingfestPatriotismus kann nicht die Antwort sein
Die globalen Probleme brachten der Schweiz einen patriotischen Backlash. Unsere Autorin erzählt, warum sie mit ihrer Familie nicht in diese Ausflüchte einstimmen mag.
Damit ich nicht missverstanden werde: Ich lebe gerne in der Schweiz. Es ist ein Privileg, das einem per Geburt zufällt. Bei allen kleineren und grösseren Problemen, die es auch bei uns gibt: Sicherheit, soziale Auffangnetze, Meinungsfreiheit, Zugang zu Bildung, das ist alles garantiert, und die politische Mitsprache sucht ihresgleichen. Aber die Flagge, die Hymne, das patriotische Klimbim, das sagt mir nichts.
Fehlende Katalysatoren des Patriotismus
Das war schon immer so. Ich bin ohne Fernseher aufgewachsen, ohne Katalysatoren des Patriotismus wie Skirennen und Fussballspiele. Die Stelle, an der bei anderen der Sport steht, war bei meinen Eltern mit Musik besetzt. Der 1. August war für uns mehr Frei- als Feiertag. Wie man sich in ein Flaggen-Outfit hüllen, sich Kreuze auf die Wangen malen kann, um in einem halb vollen Festzelt Ländler zu hören oder in einem Stadion irgendwo auf der Welt Roger Federer anzufeuern, das war mir immer und ist mir heute noch schleierhaft.
Auf symbolischer Ebene wird beim ESAF immer die Schweiz verhandelt.
Dieses Jahr ist mir mein fehlender Patriotismus besonders aufgefallen. Als wegen des Feuerwerkverbotes am 1. August ein Aufschrei durchs Land ging, liess mich das kalt. Der Lärm, der Feinstaub, diese dekadente Verpuffung von Geld am Nachthimmel, das alles mochte ich nie. Und als ein paar Wochen später alle völlig selbstverständlich vom ESAF sprachen, als wäre Schwingen keine komplette Randsportart, konnte ich nicht in den Chor einstimmen.
Natürlich ist es auch cleveres Marketing, welches das eidgenössische Schwing- und Älplerfest so populär gemacht hat. Und es gibt viel Spektakel im Ring. Auf symbolischer Ebene wird beim ESAF aber immer die Schweiz verhandelt. Ihr endemischer Charakter macht diese Sportart zur nationalen Projektionsfläche – das und die Männer im Baumstammformat, die aussehen, als wären sie einem Landesmythos entstiegen.
Kollektive Selbstvergewisserung
Das Schwingfest hatte dieses Jahr mehr denn je den Charakter einer kollektiven Selbstvergewisserung. Es ist naheliegend, dies als Reaktion auf die globalen Konstellationen zu lesen. Zuerst die Pandemie, dann der Krieg in Europa, das Klima, das verrückt spielt. Beim Blick auf das grosse Ganze wird einem eng ums Herz. Es wird zum Bedürfnis, die Welt kleinzumachen, ein «Wir» und ein «Bei uns» abzugrenzen, für sich und für die Familie.
Die Schweizer, die mit dem Range Rover beim Discounter vorfahren, um ihre Lebensmittel so billig wie möglich einzukaufen, was verbindet mich mit ihnen?
Mir geht es da nicht anders. Patriotismus ist für mich aber nicht das Mittel der Wahl. Nicht weil ich fürchte, dass er über kurz oder lang in Nationalismus umschlägt. Aber weil die Idee, die dahintersteckt, auf einem Missverständnis beruht. Klar existiert die Nation realpolitisch – als Wechselspiel von Institution und Individuum, Steuer- und Sozialsystem und so weiter. Aber nicht als Gesinnungsgemeinschaft. Auch wenn wir alle an Pünktlichkeit glauben und ein dichtes Netz von Abfallkübeln gewöhnt sind. Die Schweizer, die mit dem Range Rover beim Discounter vorfahren, um ihre Lebensmittel so billig wie möglich einzukaufen, was verbindet mich mit ihnen? Sicher weniger als mit der Mexikanerin, mit der ich damals beim Auslandssemester in Kopenhagen ein Badezimmer und ein Lebensgefühl teilte.
Das Unbehagen der Zeit versinkt nicht im Fahnenmeer
Die Nation ist eine organisatorische, keine ideelle Einheit. Aber nur eine ideelle Antwort auf die Weltereignisse kann nachhaltig sein – das Unbehagen unserer Zeit versinkt nicht einfach im Fahnenmeer. Ich habe mir deshalb vorgenommen, im Alltag bewusster entlang von Werten zu leben, lokal verantwortlich und international solidarisch zu handeln. So will ich und wollen wir es unseren Kindern vorleben – ohne uns vorzumachen, dass wir die Welt retten.
Gelegentlicher Eskapismus, wie ihn gerade der Sport bietet, schliesst das nicht aus. Dass das auch ganz unpatriotisch geht, dafür ist mein Partner der beste Beleg. Er schaut lieber Football als Schwingen und Skirennen. Im Fussball brennt er für Italien. Man müsse sich nur einmal auf ein Trikot festlegen, sagt er, der Effekt sei dann derselbe.
Wie handhaben Sie das, liebe Leserinnen und Leser? Oder gibt es Ihrer Meinung nach überhaupt einen solchen patriotischen Backlash? Diskutieren Sie mit.
Fehler gefunden?Jetzt melden.