Rahmenabkommen mit der EUParmelin in Brüssel – was Sie über das Verhandlungsfinale wissen müssen
Am Mittwoch beschliesst der Bundesrat, mit welchem Gepäck der Bundespräsident zum Gipfel der letzten Chance mit der EU reist. Was kann Guy Parmelin dort am Freitag erreichen? Und was passiert danach? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Mit wem wird sich Parmelin treffen, und wer begleitet ihn?
Der Bundespräsident trifft am Freitag um 10 Uhr in Brüssel Ursula von der Leyen, die Präsidentin der EU-Kommission. Begleitet wird er dabei von Chefunterhändlerin Livia Leu. Zu Hause bleiben muss jedoch der für das EU-Dossier zuständige Bundesrat, Aussenminister Ignazio Cassis (lesen Sie hier mehr dazu).
Das Rahmenabkommen liegt doch längst vor. Warum wird immer noch verhandelt?
Aus Sicht der EU sind die Verhandlungen tatsächlich seit November 2018 abgeschlossen. Die Schweiz bestreitet allerdings, dass Cassis damals bei einem Treffen in einem Zürcher Hotel dem Entwurf zugestimmt habe. Im Sommer 2019 hat der Bundesrat von Brüssel Klarstellungen zu den drei Streitpunkten Lohnschutz, Unionsbürgerrichtlinie und Staatsbeihilfen verlangt. Danach geschah lange nichts. Seit Januar 2021 hat Staatssekretärin Livia Leu in sechs Gesprächsrunden mit Brüssel versucht, eine Einigung zu finden – ausser bei den Staatsbeihilfen bisher ohne Erfolg. Auch weil beide Seiten etwas anderes unter Klarstellungen verstehen. Nun soll das Gipfeltreffen Klarheit über das weitere Vorgehen schaffen.
Welches ist der grösste Knackpunkt?
Die EU-Unionsbürgerrichtlinie, mit der EU-Bürger unter anderem leichteren Zugang zur Schweizer Sozialhilfe erhielten. Sie ist – neben dem Lohnschutz – der Grund, weshalb die EU überhaupt auf ein Rahmenabkommen mit dynamischer Rechtsübernahme und Streitschlichtung drängt. Das bilaterale Freizügigkeitsabkommen widerspiegelt den Rechtsstand in der EU von 1999. Die Unionsbürgerrichtlinie von 2004 ist aus der Sicht Brüssels die Fortentwicklung. Der Bundesrat will sie aber ganz vom Geltungsbereich des Rahmenabkommens ausnehmen. Dieses sogenannte «carve out» würde also genau den Bereich ausklammern, der der EU besonders wichtig ist (lesen Sie hier auch unser launiges Lexikon zum Rahmenabkommen).
Kann es am Freitag noch eine Einigung geben?
Im Umfeld des Bundesrats dominiert der Pessimismus: Der Vertragsentwurf lasse sich wohl nicht mehr retten. Doch die Geschichte lehrt, dass es in schwierigen Verhandlungen oftmals einen Durchbruch gab, als kaum noch jemand daran glaubte – etwa bei den Brexit-Verhandlungen Grossbritanniens.
Was wird Parmelin der EU anbieten?
Nach vielen, vielen Bundesratssitzungen zum Thema ist nur so viel klar: Die Mehrheit der Landesregierung lehnt den Vertrag in seiner heutigen Form ab. Offen ist bis jetzt aber, wie und mit welchem Gegenangebot Parmelin der EU diese schwierige Botschaft überbringen soll.
Warum tut sich der Bundesrat so schwer?
Er fürchtet sich vor der Reaktion der EU. Seit Monaten ringt er um einen Plan B, konnte sich bisher aber nicht einigen – auch nicht an einer ausserordentlichen Sitzung am Montag. Am Mittwoch, nur 48 Stunden vor dem Showdown in Brüssel, führt der Bundesrat die Diskussionen dazu fort.
Wie könnte ein Plan B denn aussehen?
Das ist derzeit die Multi-Millionen-Franken-Frage der Schweizer Politik. Sicher sind nur drei Dinge. Erstens: Ein Plan B soll ein Zerwürfnis mit der EU abwenden, weil dies der Schweizer Wirtschaft schaden würde. Zweitens: Ein Plan B würde wohl nicht aus einer einzigen genialen Idee, sondern aus mehreren Bausteinen bestehen. Drittens: Ein Plan B, in dem nur die EU Konzessionen macht und die Schweiz keine, ist unrealistisch.
Das ist derzeit die Multi-Millionen-Franken-Frage der Schweizer Politik.
Welche Bausteine könnte ein Plan B beinhalten?
Geld. Bern könnte die seit langem zurückgehaltene Kohäsionsmilliarde an die EU endlich auszahlen oder den bisherigen Betrag sogar aufstocken.
Update des Freihandelsabkommens. Cassis wollte der EU statt des Rahmenabkommens anbieten, das bilaterale Freihandelsabkommen von 1972 zu aktualisieren. Doch seine Bundesratskollegen haben dies verworfen. Denn bei einer Aktualisierung würde die EU ziemlich sicher auch Freihandel im Agrarsektor fordern – und das würde in der Schweiz ebenfalls massiven Widerstand provozieren. Zudem kämen teilweise ähnliche institutionelle Fragen auf das Tapet wie beim Rahmenabkommen.
Interimsabkommen. Es kursieren Ideen, wie die Schweiz mit einer Art Stillhalteabkommen einige Jahre Zeit schinden könnte. In Schweizer Ohren klingt dies attraktiv. Das Problem ist aber, dass die EU bis jetzt keine Bereitschaft zeigte, ihre Drohkulisse der schleichenden Erosion der bilateralen Abkommen einfach so abzuräumen.
Interne Reformen. Ein Thema ist im Bundesrat offenbar ein Fitnessprogramm für die Wirtschaft namens «Swisslex 2.0». Die Idee ist, mit innerschweizerischen Massnahmen die Wettbewerbsposition des Landes zu verbessern und so Nachteile zu kompensieren, die durch eine Eiszeit mit der EU drohen.
Wird Parmelin am Freitag definitiv den Abbruch der Verhandlungen verkünden?
Das ist eher unwahrscheinlich – nicht zuletzt, weil auch die Kantone auf ihre verfassungsmässigen Mitwirkungsrechte pochen. «Wir haben Anspruch darauf, dass der Bundesrat uns informiert, bevor er definitive Beschlüsse fällt», sagte der Bündner FDP-Regierungsrat Christian Rathgeb, Präsident der Konferenz der Kantonsregierungen, in der «NZZ am Sonntag».
Was ist an Parmelins Brüssel-Reise besonders pikant?
Der Bundespräsident gehört der SVP an – jener Partei also, die am heftigsten gegen das Rahmenabkommen opponiert. Sollte ausgerechnet Parmelin einen Kompromiss einfädeln, dürfte das seiner Partei nicht gefallen. Sollte er bei seinem Rettungsversuch scheitern, könnte er sich bei den Befürwortern des Abkommens dem Vorwurf aussetzen, es als SVPler gar nicht richtig versucht zu haben.
Gibt es in der Schweiz überhaupt noch jemanden, der ein Rahmenabkommen will?
Ja. Nachdem in den letzten Monaten vor allem die Kritiker Stimmung machten, haben jetzt Vertreter der Wirtschaft eine mediale Offensive für das Abkommen gestartet. Besonders eindringlich tat dies Martin Hirzel, Präsident des Industrieverbands Swissmem. Ohne Abkommen, so warnte Hirzel in der «NZZ am Sonntag», würden die Firmen der Maschinen- und Metallindustrie vermehrt im Ausland investieren und Arbeitsplätze auslagern. Denn in den nächsten Jahren würden für die Industrie wichtige Verträge mit der EU auslaufen, die ohne Rahmenabkommen nicht aktualisiert werden könnten.
Vertreter der Wirtschaft haben eine mediale Offensive für das Abkommen gestartet.
Und wer wehrt sich gegen das Abkommen?
Ausser der SVP, die grundsätzlich dagegen ist, gibt es zwei Oppositionslager. Zum einen bürgerliche Zentristen wie Mitte-Präsident Gerhard Pfister oder Alt-Bundesrat Johann Schneider-Ammann (FDP), die sich um die Souveränität sorgen: Ihnen missfällt die im Abkommen vorgesehene Streitbeilegung, die eine wichtige Rolle für den EU-Gerichtshof vorsieht. Auf Ablehnung stösst in allen bürgerlichen Parteien auch die Unionsbürgerrichtlinie. Zum anderen beharren die Gewerkschaften darauf, dass die Schweizer Lohnschutzmassnahmen gegenüber allen Angriffen via den Europäischen Gerichtshof abgesichert werden.
Welche Folgen drohen, falls es keine Einigung gibt?
Die langsame Erosion der bilateralen Beziehung ist die Drohkulisse der EU. Akut bedroht ist das sogenannte Abkommen über technische Handelshemmnisse (MRA). Das MRA muss für bestimmte Produktbereiche regelmässig aktualisiert werden. Am 26. Mai wäre ein Update für die Medizinalprodukte fällig, doch die EU blockiert es. Der Zugang für die Branche zum Binnenmarkt verschlechtert sich, Hersteller in der Schweiz sehen sich mit höherem administrativem Aufwand konfrontiert. 2023 ist eine solche Aktualisierung auch für die Maschinenindustrie fällig, eine Branche mit noch deutlich grösserem Exportvolumen. Die EU versperrt sich derzeit auch Gesprächen über eine Assoziierung der Schweiz beim Forschungsprogramm Horizon Europe. Brüssel weigert sich zudem, die weit fortgeschrittenen Verhandlungen über ein Strom- und ein Gesundheitsabkommen abzuschliessen.
Wie geht es weiter, wenn Parmelin trotzdem einen Durchbruch erzielt?
Dass in diesem Fall das Abkommen sofort unterschrieben würde, ist praktisch ausgeschlossen. Ein Durchbruch auf politischer Ebene müsste noch durch die Unterhändler konkretisiert werden.
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