Oberster Schweizer Katholik im Interview«Nach dem Tod von Franziskus kondolieren mir viele Katholiken, was mich etwas überrascht»
Bischof Charles Morerod präsidiert die Schweizer Bischofskonferenz. Er sagt, welche Bedeutung der Katholizismus hierzulande noch hat und warum er vermutet, dass der muslimische Fastenmonat Ramadan junge Christen zur Firmung inspiriert.

- Die Schweizer Katholiken reagieren verhaltener auf den Tod des Papstes als jene in Rom.
- Bischof Morerod betont den Dialog als wichtigstes Mittel für die katholische Kirche.
- Der Graben zwischen konservativen sowie progressiven Katholiken bleibt eine grosse Herausforderung.
Charles Morerod sass gerade im Zug in Richtung Zürich, als er vom Tod von Papst Franziskus erfuhr. Von einer Journalistin, die ihm - dem Bischof von Lausanne, Genf und Freiburg - eine Frage dazu stellen wollte. Dass der Papst nur einen Tag nach seinem letzten Auftritt an Ostern starb, überraschte ihn, machte ihn auch etwas traurig, und doch sagt er pragmatisch: «Es ist normal, dass Menschen sterben, und Papst Franziskus war ziemlich alt und krank.» Das Wort «pragmatisch» scheint überhaupt ganz gut zur katholischen Kirche der Schweiz zu passen. Und zu Bischof Morerod selbst.
Im Gespräch im Ordinariat in Freiburg spricht der 63-jährige Bischof über die Zukunft des Katholizismus in der Schweiz und über den Graben zwischen konservativen und progressiven Ansichten, der auch die Katholiken hierzulande trennt.
Bischof Morerod, Ihr Chef ist gestorben – haben Sie viele Reaktionen von Gläubigen erhalten?
Ja, tatsächlich habe ich viele Briefe erhalten, die ich aber noch nicht alle lesen konnte. Viele Katholiken kondolieren mir, was mich etwas überrascht. Ich könnte ihnen ebenso zurück-kondolieren, da Franziskus unser aller Papst war. In der Schweiz gehen wir mit seinem Tod aber anders um als beispielsweise die Katholiken in Rom. Dort ist der Papst wie ein Familienmitglied. Hier war er mehr ein Impulsgeber.
Wer hört in der Schweiz denn noch auf seine Impulse?
Diese Frage kann man überall auf der Welt stellen. Diejenigen Menschen, die zufrieden sind mit dem, was der Papst sagt, hören auf ihn. Er ist ein Botschafter von Jesus Christus und muss das Evangelium predigen. In seinem letzten Jahr plädierte Papst Franziskus für Hoffnung und für Frieden.
Was den Frieden betrifft, fand er leider kein Gehör…
Papst Franziskus ging zu Beginn des Ukraine-Kriegs zu Fuss in die russische Botschaft in Rom, um seine Sorge über den Krieg zum Ausdruck zu bringen. Das hatte zwar keine politischen Konsequenzen, aber dennoch war es ein starkes Symbol. Und wer weiss – vielleicht haben seine Worte und sein Einfluss Konflikte auf der Welt verhindert, von denen wir gar nichts wissen, weil sie nie stattgefunden haben.
Der Papst gehört zu den einflussreichsten Menschen der Welt und ist das religiöse Oberhaupt von 1,4 Milliarden Katholikinnen und Katholiken, also von einem Sechstel der Weltbevölkerung. Müsste der nächste Papst noch politischer sein?
Papst Johannes Paul II. war ein sehr politischer Papst, der in Polen zum Ende der kommunistischen Herrschaft beitrug. Auch Franziskus hat noch am Tag vor seinem Tod den Vizepräsidenten der USA, J.D. Vance, gesprochen. Hoffentlich hat er ihn ein bisschen beeinflussen können.
Inwiefern beeinflussen?
Vizepräsident Vance äusserte kürzlich fragwürdige theologische Überlegungen zum Thema Nächstenliebe, um ein gewisses Desinteresse und ein schärferes Vorgehen gegenüber Ausländern und Einwanderung zu rechtfertigen. Er sagte, zuerst sei die eigene Familie zu lieben, dann erst die Nachbarn, die Gemeinschaft, die Mitbürger und der Rest der Welt. Nächstenliebe bedeutet aber, dass jeder Mensch der Nächste ist.

Apropos USA: Seit dem Amtsantritt von Donald Trump erleben konservative Werte und Ansichten einen Aufschwung. Forderungen nach mehr Diversität und nach Gleichstellung scheinen derweil ausgebremst zu werden. Könnte ein neuer Papst dem entgegensteuern?
Papst Franziskus hat als erster Papst mit Raffaella Petrini eine Frau zur Regierungschefin des Vatikans ernannt. Das war wirklich etwas Neues in der Geschichte des Vatikans. Was der neue Papst tun wird, kann ich Ihnen nicht sagen.
Aber sind Sie der Meinung, dass der neue Papst Gegensteuer geben sollte, wenn Trump gegen Diversität kämpft?
Die katholische Kirche identifiziert sich nicht mit einem Land, da sie universell ist. Der Papst ist der Papst der katholischen Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten, aber auch von vielen lateinamerikanischen Einwanderern.
Bald findet das Konklave unter grosser Geheimhaltung im Vatikan statt. Die Kardinäle treffen sich dort, abgeschirmt von der Welt, um den neuen Papst zu wählen. In Thrillern werden dort oft Machtspiele ausgefochten. Können Sie uns erzählen, wie es tatsächlich abläuft?
Nein, da weiss ich leider nicht mehr als Sie. Und solche Filme schaue ich nicht. Ich kann Ihnen nur sagen, dass dort ein neuer Papst gewählt wird. Ich denke, es werden demokratische Wahlen sein, als Schweizer wissen wir ja gut, wie das funktioniert.
Spielen das Herkunftsland oder politische Strömungen – Konservatismus versus Progressivität – eine grosse Rolle bei der Papstwahl?
Das weiss ich ebenfalls nicht. Aber zwei Drittel der Kardinäle im Konklave wurden von Papst Franziskus ernannt, also werden sie sich in ihren Werten nicht allzu stark von ihm unterscheiden. Und was die geografische Lage betrifft: Natürlich hoffen einige Kardinäle bestimmt, dass der nächste Papst aus ihrer Gegend kommt. Aber mir scheint, die wichtigste Frage ist nicht, woher der Papst kommt – sondern, wie gut er ist.
Die Zukunft der katholischen Kirche liegt aber in Asien und Afrika und nicht in Europa – dort nimmt die Zahl der Gläubigen zu, während sie in Europa seit Jahren kontinuierlich sinkt. Und es gab noch nie einen afrikanischen oder asiatischen Papst…
Das ist nicht erst in Zukunft so, dass diese Kontinente an Bedeutung gewinnen, sondern es ist bereits jetzt so. Weltweit gesehen hat sich die Wahrnehmung über die europäischen Katholiken tatsächlich verändert. Viele Katholiken der anderen Kontinente denken jetzt schon, dass die Kirche in Europa keine grosse Bedeutung mehr hat.
Mir fällt hierzu eine kleine Anekdote ein: Ich habe eine Zeit lang in den Vereinigten Staaten von Amerika gearbeitet. Die amerikanischen Katholiken fanden, alle Europäer seien sozialistisch – weil ich ihnen gesagt hatte, nur weil man katholisch sei, müsse man nicht George W. Bush wählen.
Wie sind denn Schweizer Katholikinnen und Katholiken aus Ihrer Sicht?
Die Erwartungen an die Kirche gehen in der Schweiz weit auseinander. Es gibt einen grossen Graben zwischen Traditionalisten und Progressiven. Vor allem in emotionalen Themen wie Homosexualität gehen die Meinungen oft diametral auseinander. Wir haben beispielsweise in Genf zu einer Messe explizit homosexuelle Personen eingeladen, das wurde nicht von allen Katholiken goutiert.
Ist dieser Graben geografisch? Oder liegt er vielleicht zwischen den Generationen?
Nein, weder noch. Es haben mich auch schon junge Leute darauf angesprochen, dass die Kirche sich gegen Homosexualität aussprechen müsse. Sie sagten – ich zitiere ein Beispiel –, dass sie befürchten, dass ihre Kinder später homosexuell werden, wenn die Kirche diese Aufgabe nicht mehr übernimmt.
Wie antworten Sie darauf?
Das sind wirklich dumme Aussagen. Aber es hilft nicht, den Leuten zu sagen, dass sie dumm sind. Ich versuche stattdessen, mit ihnen in einen konstruktiven Dialog zu treten. Der Dialog ist immer das richtige Mittel. Nur leider beobachte ich auch, dass immer mehr Menschen keinen Dialog wollen, sondern nur für sich schauen.

Zurück zur Ursprungsfrage: Wäre es nun nicht an der Zeit für einen Papst aus Afrika oder Asien?
Wir werden sehen.
Was denken Sie persönlich zu den Themen Homosexualität und Zölibat?
Das sind ganz unterschiedliche Themen, über die ich meine persönliche Meinung nicht äussere. Denn ich bin ein Bischof für alle in meiner Diözese. Was das Zölibat betrifft: Papst Franziskus sagte mal in einer Synodalversammlung, er könne sich vorstellen, das Zölibat aufzuheben. Er hat dieses Thema dann aber nicht angepackt, sondern überlässt es seinem Nachfolger. Das ist ein ziemliches Geschenk. (lacht)
Sollten Frauen auch in der katholischen Kirche Priesterinnen sein dürfen?
Ich sehe ein, dass die katholische und die orthodoxe Kirche in diesem Punkt eine Ausnahme in unserer Gesellschaft darstellen. Und ich bin natürlich froh, dass Frauen Zugang zu allen Berufen haben. Diese theologische Frage ist recht komplex: Die Antwort von Johannes Paul II. lautete, dass er nicht das Recht habe, etwas zu ändern. Das hat Papst Franziskus wiederholt.
Muss sich die katholische Kirche in der Schweiz mehr an die Lebensrealität der Gesellschaft anpassen und einen grösseren Reformschritt wagen, wenn sie nicht weiterhin kontinuierlich Mitglieder verlieren will?
Das ist schwierig, weil die Schweizer Kirche nicht abgesondert betrachtet werden kann. Die katholische Kirche ist grösser als die Schweiz. Zudem sind viele Katholikinnen und Katholiken in der Schweiz Ausländerinnen und Ausländer. In Genf sind sogar zwei Drittel der Katholiken Ausländer. Würde die Schweizer Kirche eine zu grosse Reform durchführen, würde das die Mitglieder noch mehr spalten und den eben genannten Graben noch vergrössern.
Trotzdem machen wir immer wieder Reformen in kleinen Schritten. Auch hier fällt mir eine kleine Geschichte ein. An einem kalten und nassen Abend habe ich mal in Genf einer alten Frau ins Tram geholfen, weil sie schlecht zu Fuss war. Sie sagte mir anschliessen mit breitem Genfer Akzent: «Vous savez, moi je suis protestante, mais je vous aime bien quand même.» (Anm. d. Red.: «Wissen Sie, ich bin Protestantin, aber ich mag Sie trotzdem.») Als diese Frau noch jung war, durften Protestanten nicht mit Katholiken verkehren. Heute würde eine junge Person diese Aussage gar nicht mehr verstehen.
Ich habe diese Geschichte übrigens auch mal Papst Franziskus erzählt, als er in Genf war, und er hat sich mehr als zwei Jahre später noch daran erinnert.
Junge Menschen gehen seltener in die Kirche – und treten häufiger aus. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Dafür gibt es verschiedene Gründe. In Kantonen, die eine Kirchensteuer erheben, liegt es häufig daran, dass die Leute diese nicht mehr bezahlen wollen. Oder sie wurden aus Tradition getauft, weil schon die Eltern und Grosseltern katholisch waren, haben sich aber später nicht mit ihrer Religion auseinandergesetzt. Auch die Missbrauchsskandale der letzten Jahre haben viele dazu bewegt, aus der Kirche auszutreten.
Ich beobachte aber auch, dass in den letzten Jahren viele Personen die Kirche wieder neu entdecken. Viele Pfarrer meiner Diözese haben mir am Aschermittwoch berichtet, wie überrascht sie waren, dass sich mehr junge Leute firmen liessen. Im Kanton Waadt gab es zwei Mal mehr Erwachsenenfirmungen als noch vor drei Jahren.
Sie selbst haben eine Rüge aus Rom bekommen, weil sie bei Verdacht auf Missbrauch in Ihrem Bistum keine kanonische Untersuchung veranlasst haben.
Ja, ich habe die mir bekannten Fälle direkt der Polizei gemeldet, anstatt sie der Kirche zu melden. Das ist es, was mir vorgeworfen wurde. Der ganze Skandal hat unseren Blick nun noch mehr geschärft. Wir verlangen beispielsweise von unseren Mitarbeitenden Strafregisterauszüge. Aber leider können Missbrauchsfälle so vertuscht werden, dass sie niemals auf einem Strafregisterauszug landen.
Zurück zu den vielen Firmungen im Kanton Waadt. Wie erklären Sie sich das?
In Frankreich ist dieser Trend auch zu beobachten. Dort wird er damit erklärt, dass sich viele junge Menschen mit Musliminnen und Muslimen über Ramadan unterhalten haben und sich infolgedessen auch mit der katholischen Fastenzeit auseinandersetzten. Das könnte auch hier in der Westschweiz die Erklärung sein. Es wäre schön, wenn diese Erklärung stimmt und die Religionen einander inspirieren.
Gemäss Sorgenbarometer 2024 haben aber auch Ängste vor globalen Bedrohungen zugenommen. Wenden sich Menschen in Krisenzeiten häufiger der Religion zu?
Auch das ist eine mögliche Erklärung. Viele Menschen suchen gerade in Krisenzeiten in der Religion Hoffnung.
Zum Abschluss möchte ich Sie noch fragen: Welche Hoffnungen setzen Sie in den neuen Papst?
Ich war sehr zufrieden mit Papst Franziskus und mit seiner Arbeit. Vor allem hat mich beeindruckt, wie gut er sprechen konnte. Er überbrachte seine Botschaften mit Geschichten und nicht mit Floskeln. Und er hat immer mit allen das Gespräch gesucht. Egal wer ihm gegenüberstand. Das ist absolut notwendig. Wenn wir mehr Frieden wollen, brauchen wir den Dialog. Der neue Papst sollte es deshalb Franziskus gleichtun.
Fehler gefunden?Jetzt melden.