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Meinung

Papablog: Motz und Trotz
Alles nur Luxusprobleme

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Haben Sie in der Familie auch so viele Probleme wie wir? Also bei uns gibt es oft heftige Diskussionen, wenn sich die Kinder uneins sind, was sie im Fernsehen gucken möchten. Oder es gibt Streit ums Tablet oder wenn die gleiche Person aus dem Nachwuchs (Name dem Redaktor bekannt) zum fünften Mal in Folge beim «Leiterlispiel» verliert. Es artet aus, wenn die Kids in der Küche in die Töpfe glotzen und schon vor dem Essen kommentieren, dass man dieses oder jenes dann ganz bestimmt nicht auf dem Teller haben möchte.

Abräumen, aufräumen, mithelfen? Motz und Trotz. Irgendwer fühlt sich immer übergangen, ungehört und benachteiligt. Ja, wir haben viele Probleme zu lösen im Familienalltag – ganz viele Probleme. Viele, viele «First-World»-Probleme. Probleme, die an Lächerlichkeit kaum zu überbieten sind. Wo bleibt eigentlich die Dankbarkeit?

Perspektivenwechsel: Das Projekt «Bayasgalant»

Am Rand von Ulan Bator, der mongolischen Hauptstadt, befindet sich eine Tagesstätte für Kinder. Gegründet vor zwanzig Jahren von einigen Enthusiastinnen aus der Region Biel. Die Frauen bereisten damals die Mongolei, waren fasziniert von der Schönheit des Landes und erschüttert ob der Armut, die insbesondere auch die Kinder betrifft. Ich kenne diese Gründerinnen und habe den Aufbau und die Erfolgsgeschichte des Vereins «Bayasgalant – Kinderhilfe Mongolei» stets mitverfolgt.

Mir ist wichtig, dass meine Kinder wissen, wie die Dinge an anderen Orten laufen.

Kommt bei meinen Kindern hin und wieder das Gefühl auf, sie seien aus diesem oder jenem Grund die ärmsten Lebewesen der Welt, pflege ich zu Mongolei-Monologen anzusetzen, die das Gegenteil beweisen sollen. Klingt alles ein bisschen altbacken, ja? Schon möglich. Aber mir ist wichtig, dass meine Kinder wissen, wie die Dinge an anderen Orten laufen, weshalb es Organisationen wie «Bayasgalant» überhaupt braucht.

«Was möchtet ihr über diese Kinder erfahren?», frage ich Junior und die Kleine. Und siehe da, aus ihren vorwitzigen Sprechluken kamen feinfühlige Fragen, die ich anschliessend von Martina Zürcher, einer der Gründerinnen der Tagesstätte, beantworten liess. Eine Auswahl.

Wer sind diese Kinder genau?

Viele der Kinder stammen aus Familien, die zuvor als Nomaden auf dem Land gelebt haben. Durch schwierige Wetterbedingungen wie extreme Trockenheit oder aussergewöhnlich viel Schnee und Kälte im Winter haben diese Nomaden ihre Herden verloren. Deshalb kommen die Familien in die Stadt. Allerdings ist es schwierig, in Ulan Bator Arbeit zu finden.

Wo wohnen die Kinder?

Einige von ihnen wohnen noch in Jurten, also in Zelten. Die meisten von ihnen leben in einfachen Hütten. Das ist in der Regel ein grosser Raum, in dem die ganze Familie haust. Viele der Kinder haben nur noch ihre Mutter, da die Väter abgehauen sind, manche sind bei ihren Grosseltern untergebracht. Unser zwanzigköpfiges Team vor Ort schätzt, dass die Hälfte der Eltern ein Alkoholproblem hat. Deshalb fürchten sich viele Kinder, nach Hause zu gehen, da sie dort nicht selten Gewalt und andere Übergriffe erleben.

«Viele von ihnen haben schlimme Rucksäcke zu tragen»: Schlafende Kinder in der Kindertagesstätte des Vereins «Bayasgalant».

Was machen die Kinder den ganzen Tag?

Aktuell kommen etwa 200 Kinder zu uns. Sie sind zwischen 2 und 16 Jahre alt und bekommen bei uns täglich warme Mahlzeiten. Bei den grösseren Kids schauen wir, dass sie zur Schule gehen und ihre Hausaufgaben machen. Die kleineren Kinder werden von uns den ganzen Tag betreut oder gehen in einen unserer drei Kindergärten. Weiter geben wir den Kindern schulische Nachhilfe und psychologische Betreuung. Sie lernen bei uns auch, gewaltfrei zu kommunizieren. Viele haben schlimme Rucksäcke zu tragen. Wir möchten ein Ort sein, wo sie einfach Kinder sein dürfen.

Haben die Kinder auch Ämtli?

In ihren Familien sind die Kinder oft fürs Wasser zuständig. Das heisst, sie müssen in ihren Quartieren Wasser holen an der Wasserstelle. Ausserdem schauen die grossen zu den kleineren Kindern, da viele Eltern nicht in der Lage sind oder keine Zeit haben, sich um den Nachwuchs zu kümmern. Das Problem: Wer die Verantwortung für andere übernehmen muss, kann nicht zur Schule gehen. Das ist auch der Grund, weshalb wir Kindergärten eröffnet haben. Die Kleinen kommen zu uns, während die Grossen wieder zur Schule können. Was die Ämtli in der Tagesstätte betrifft, helfen alle Kinder mit, das Essen zu verteilen, abzuräumen, im Garten zu helfen und das Hauspersonal zu unterstützen.

Motzen die Kinder, wenn sie helfen müssen?

Eher nicht. In der Mongolei sind die Hierarchien schon klar definiert. Wer die Verantwortung hat, bestimmt, wie es läuft.

Haben sie auch Spielsachen?

Ja, sie spielen gerne Schach, Basketball, manche auch Fussball. Es wird viel getanzt und gesungen bei uns. Ausserdem haben wir Sandkästen importiert – etwas, das die Mongolen vorher überhaupt nicht kannten.

Lachen die Kinder manchmal?

Klar, die Stimmung bei uns ist sehr gut, wie eine Oase der Fröhlichkeit. Meistens herrscht viel Betrieb und es ist laut und spassig. Der Umgang mit dem Team und unter den Kindern ist sehr familiär.

Nein, ich kann Junior und die Kleine nicht mit der gänzlich ungefilterten Realität in Ulan Bator konfrontieren. Aber es ist wichtig für sie zu wissen, in welch privilegierter Welt wir leben. Eine Welt, die in diesen Tagen auch von mehreren Mongolinnen und Mongolen entdeckt wird, die zu den Feierlichkeiten des 20-Jahr-Jubiläums von «Bayasgalant» in die Schweiz reisen durften, um unter anderem mit Spenderinnen und Spendern in Kontakt zu kommen. Denn aus kleinen Kindern der ersten Generation sind junge Erwachsene geworden, die viel zu erzählen haben. Zum Beispiel, dass sie eine Ausbildung machen konnten und dadurch eine Perspektive, eine Anstellung haben. Oder dass sie sich eine Wohnung leisten können. Vielleicht auch, dass sie diesen Bieler Enthusiastinnen ein Leben lang dankbar sind.

Und wir? Sind wir dankbar? Oder: Kann man wirklich dankbar sein, wenn man schon immer alles hatte und niemals auf irgendetwas verzichten musste?