Run auf neue PräparateÄrzte am Anschlag wegen Abnehmspritzen: «Es hat uns fast kaputtgemacht»
Präparate wie Ozempic, Wegovy und Saxenda bringen spezialisierte Zentren an ihre Belastungsgrenzen. Ein Arzt erzählt.
- Der Boom neuer Abnehmspritzen belastet Schweizer Behandlungszentren beträchtlich.
- Restriktive BAG-Vorgaben erfordern erheblichen administrativen Aufwand bei Ärzten und Fachpersonen.
- Viele Personen beschaffen Fettwegspritzen ohne Kostengutsprache für Lifestyle-Behandlungen.
So richtig los in der Schweiz ging es im Frühling 2021. Immer mehr Menschen wollten die neuen Abnehmspritzen und suchten Arztpraxen und spezialisierte Zentren auf, um an die Präparate zu kommen.
«Es gab bei uns einen unerwarteten Schub», erinnert sich der Leiter eines Schweizer Diabetes- und Adipositas-Zentrums. Der rasche Anstieg der Patientinnen und Patienten, die sich bei ihm behandeln lassen wollten, hatte einschneidende Folgen: «Es hat unseren Betrieb fast kaputtgemacht», so Markus Schmid. Der Mediziner schildert die prekäre Situation, möchte aber anonym bleiben, weshalb sein Name hier erfunden ist. Schmid befürchtet, dass sonst noch mehr Patienten und Ärztinnen seine Hilfe in Anspruch nehmen könnten. «Dafür fehlt mir schlicht die Kapazität.»
Lange blieb es ruhig um die sogenannten GLP-1-Agonisten. Saxenda (Wirkstoff: Liraglutid) erhielt die Schweizer Zulassung zwar bereits 2017. Die Krankenkassen übernahmen die Kosten für den Appetitzügler – im Fachjargon Anorektikum genannt – aber erst ab dem 1. April 2020. Das war mitten im Lockdown zu Beginn der Corona-Pandemie, und die Menschen hatten andere Sorgen. Und so dauerte es ein weiteres Jahr, bis der Boom um die Fettwegspritzen einsetzte. Dann aber so richtig, auch angetrieben durch Medienberichte. Parallel zur Zunahme bei Saxenda stieg die Verwendung des Diabetesmittels Ozempic (Wirkstoff: Semaglutid), ebenfalls ein GLP-1-Agonist, der ebenfalls eine gewichtsreduzierende Wirkung hat.
Nicht nur die Zahl der Patientinnen sorgt seither für eine massive Belastung spezialisierter Einrichtungen wie derjenigen von Markus Schmid. Eine wichtige Rolle spielen auch die restriktiven Vorgaben durch das Bundesamt für Gesundheit (BAG). Für diese gibt es gute Gründe: Die Medikamente sind weltweit knapp, kosten jährlich bis zu 2200 Franken und haben Nebenwirkungen sowie möglicherweise unerwünschte Langzeitwirkungen, die nicht ausreichend erforscht sind. «Für uns bedeuten die Vorgaben aber einen beträchtlichen Aufwand», sagt Facharzt Schmid.
Fettwegspritzen als Lifestyle-Produkt
Die Vorgaben sind auch ein Grund dafür, dass rund jede dritte Fettwegspritze auf eigene Kosten beschafft wird, wie Recherchen dieser Zeitung zeigen. Davon dürften viele für Lifestyle-Behandlungen ohne medizinische Notwendigkeit verwendet werden. Das beobachtet auch der Arzt: «Bei uns im Spital sind in den letzten Jahren einige etwas übergewichtige Kolleginnen und Kollegen plötzlich deutlich schlanker geworden», sagt er amüsiert.
Markus Schmid hat die Spritzen selbst getestet – aus Neugier, übergewichtig ist er nicht. «Das nimmt einem komplett den Appetit», berichtet er. Für jemanden wie ihn ohne Gewichtsprobleme, der gerne isst, war es keine gute Erfahrung. Doch für die Therapie von Diabetes und Adipositas ist Schmid von den Medikamenten überzeugt: «Ich war am Anfang skeptisch, aber inzwischen haben wir bald 20 Jahre Erfahrung mit diesen Wirkstoffen», sagt der Mediziner und vermutet: «Die Vorbehalte gegenüber diesen Medikamenten haben vielleicht auch etwas Moralisierendes.» Übergewicht werde von vielen fälschlicherweise ausschliesslich als Charakterschwäche gesehen, die man nicht ohne Leiden wegspritzen dürfe.
Damit die Abnehmpräparate durch die Grundversicherung gedeckt sind, braucht es von der Krankenkasse für jeden Patienten vorgängig das Einverständnis, eine sogenannte Kostengutsprache. Als Voraussetzung müssen die Patienten einen Body-Mass-Index (BMI) von mindestens 35 haben – oder 28, wenn zusätzlich gewichtsbezogene Erkrankungen vorliegen. Die Therapie soll zudem nachweisbar mit einer Diät, Ernährungsberatung und körperlicher Aktivität kombiniert werden.
Ozempic und Co. verursachen administrativen Aufwand
Nach 16 Wochen muss der Arzt oder die Ärztin erneut eine Kostengutsprache beantragen und dabei einen Gewichtsverlust von fünf bis sieben Prozent nachweisen. Anschliessend braucht es alle sechs Monate einen erneuten Antrag an die Kasse, bei dem Gewichtsrückgang sowie körperliche Aktivität dokumentiert werden sollen. «Pro Patient müssen wir für eine dreijährige Therapie siebenmal eine Kostengutsprache beantragen», erklärt Markus Schmid. Und weil es bei den ausgefüllten Formularen immer wieder Unklarheiten gibt, kommt es oft zu Rückfragen von den Kassen. «Der administrative Aufwand ist riesig.»
Auch die Ernährungsberatung bindet Ressourcen. An dem betreffenden Zentrum ist eine Fachperson überwiegend für Adipositas-Patienten zuständig, die mit einem GLP-1-Agonisten behandelt werden. Sie veranstaltet regelmässige Informationsanlässe für 20 bis 30 Personen, um die Betroffenen anzuleiten, und steht danach für Fragen und Beratung jederzeit bereit. «Andere Zentren haben kapituliert und sind auf Online-Ernährungsberatung durch externe kommerzielle Anbieter umgestiegen», weiss der Arzt.
Nicht genug: Zu den Patienten, die die Abnehmspritzen direkt vom Zentrum verschrieben erhalten, kommt noch eine beträchtliche Zahl weiterer Personen, bei denen «wir nachputzen müssen», so Schmid. Diese Patienten haben die Abnehmpräparate von niedergelassenen Ärzten ohne Kostengutsprache erhalten. «Da herrscht Wildwuchs», sagt der Arzt. «Die Betroffenen kommen dann zu uns, und wir müssen rückwirkend die versäumten Kostengutsprachen bei den Krankenkassen einholen.» Ein weiterer Aspekt: Da nicht wenige der Patienten fremdsprachig sind, braucht es bei den Konsultationen jeweils einen Dolmetscher. «Die kosten dann mehr als die Beratung selber», sagt der Mediziner.
Adipöse wollen Abnehmspritzen möglichst schnell haben
Durch Lieferengpässe im Jahr 2023 und die Off-Label-Verschreibungen des Diabetesmittels Ozempic als Appetitzügler kam es insbesondere für Diabetiker zu Schwierigkeiten. «Diese sollten die Medikamente durchgängig nehmen, im Gegensatz zu den Adipösen, die ihr Problem oft schon seit Jahrzehnten haben und bei denen es auf ein paar Monate Unterbruch auch nicht ankommt», sagt der Zentrumsleiter. Viele der Patientinnen seien dennoch ungeduldig und wollten die Medikamente möglichst schnell. Das sei ein Grund für die vielen Verschreibungen ohne Kostengutsprache.
Inzwischen hat sich die Situation etwas entschärft, seit in der Schweiz im März 2024 Wegovy krankenkassenpflichtig wurde und lieferbar ist. Das Präparat hat den gleichen Wirkstoff wie Ozempic, ist ausschliesslich zur Gewichtsreduktion zugelassen. Für das Zentrum bedeutet das aber, dass noch mehr Patienten behandelt werden können. «Der Markt wird überschwemmt», sagt der Arzt.
Gute Noten gibt der Arzt dem Bundesamt für Gesundheit, das für einmal einen guten Job gemacht habe: «Die Spritzen sind in der Schweiz günstig im Vergleich zu anderen Ländern.» Auch, dass die Vergütung auf drei Jahre befristet ist, findet er gut – obwohl die Behandlung danach weitergehen muss, da sonst das Übergewicht zurückkommt. «Die Patienten haben bis dahin sich selbst bewiesen, dass sie mit der Therapie ihr Gewicht reduzieren können», sagt der Arzt. Die Behandlung kostet dann weniger als das Essen, das eingespart wird: Die Spritze koste im Tag rund so viel wie zwei Gipfeli, so der Arzt. «Wenn die Behandlung funktioniert, rechnet sich das für die Betroffenen wahrscheinlich auch finanziell.»
Korrektur vom 29.10.24: Wegovy wurde in März 2024 krankenkassenpflichtig in der Schweiz. In der ursprünglichen Version stand 2023.
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