Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen

Interview mit Energieexperten
«Wir brauchen nun einen Masterplan»  

Der Fotovoltaik-Zubau muss massiv beschleunigt werden: Solarfassade des Vantage-Datenzentrums in Winterthur. 
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Das Stimmvolk hat am 18. Juni entschieden: Die Schweiz will bis 2050 unter dem Strich kein CO₂ mehr produzieren. Damit folgt sie dem Pariser Klimaabkommen. Gleichzeitig ist aber auch schon die nächste Energiedebatte lanciert. Konstantinos Boulouchos, emeritierter Professor für Energietechnik an der ETH Zürich, war federführend beim ersten umfassenden Bericht der Akademie der Wissenschaften über die langfristige Energieperspektive in der Schweiz. Der vor einem Jahr verfasste Bericht ist aktueller denn je. 

Herr Boulouchos, bisher hatte man den Eindruck, die Politik interessiere sich nur für die kurzfristige Energieversorgung, müssen wir nach der Abstimmung vom 18. Juni endlich langfristig denken?

Wir haben in den letzten zehn Jahren nicht viel unternommen, weltweit und in der Schweiz. Mit der Umstellung auf eine CO₂-freie Energieversorgung bis 2050 kann man nicht erst 2040 beginnen, wir müssen heute die Weichen stellen. Es ist einfach, zum Beispiel einen Elektrolyseur für die Wasserstoffproduktion herzustellen, aber es braucht Erfahrung, um grosse Mengen zu produzieren. Die Hochskalierung von Innovation braucht Zeit.

Sie meinen, es läuft uns die Zeit davon?

Die Zeit wird knapp, sie hat aber noch eine andere Bedeutung. Vieles läuft nicht zeitgleich ab, also synchron. Die Nachfrage nach Strom für Wärmepumpen und E-Autos steigt, aber gleichzeitig hapert es beim Ausbau des CO₂-freien Stromangebots, sprich bei den erneuerbaren Energien und erneuerbaren Brenn- und Treibstoffen. Das gilt auch für den Netzausbau.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Vor kurzem musste England einen horrenden Preis für eine Megawattstunde Kohlestrom aus Belgien bezahlen, sonst wären in London die Lichter ausgegangen. Paradox war: In Schottland wäre genügend Windstrom vorhanden gewesen, aber es fehlte das entsprechende Stromnetz für die Verteilung. In Spanien gibt es genügend Solarstrom im Süden, doch ohne entsprechende Infrastruktur wird der Norden mit Strom aus Gaskraftwerken bedient. Das könnte uns auch blühen, beispielsweise mit Windstrom aus dem Norden von Deutschland.

Dann nützt uns auch ein Stromabkommen nichts?

Das stimmt, aber das brauchen wir trotzdem dringend. Eine Energieversorgung mit Stromimport und -export wird in Zukunft der kostengünstigere Weg sein als eine vollständige Autarkie.

Wie können wir den Umbau der Energietransformation besser synchronisieren?

Man sollte für jede Kenngrösse, sei es Energieangebot, -nachfrage oder Verteilnetze, Ziele definieren, den Marktakteuren – namentlich den Energieversorgern – aber freie Hand für die Umsetzung geben. Die Zielerreichung muss kontinuierlich überprüft werden, gegebenenfalls braucht es Anreize, um zum Ziel zu kommen.

Sind wir in der Schweiz synchron?

Das macht mir Sorgen. Die künftige Energieversorgung ist kompliziert und der Stromkonsum wird durch die Elektrifizierung des Verkehrs und der Heizungen massiv steigen. Solar- und Windkraft produzieren wetter- und jahreszeitabhängig nicht immer gleich viel Strom. Es braucht deshalb zum täglichen und saisonalen Ausgleich ein Speichersystem und Energiequellen auf Abruf. In einer CO₂-freien Energieversorgung braucht es zudem erneuerbaren, synthetischen Treibstoff für den Flug- und Schwerverkehr, aber auch für den Betrieb von vorzugsweise dezentralen Gaskraftwerken als Versicherung in den Wintermonaten. Die Kopplung verschiedener Energiequellen, Energienetze und Speichersysteme ist essenziell, wir müssen die Produktion von Strom, Wärme und Treibstoff zusammen thematisieren – möglichst koordiniert. Dazu brauchen wir einen Masterplan, der kontinuierlich überprüft wird.

Das wird also nicht einfach der Markt regeln?

Natürlich spielt der Markt eine wichtige Rolle, welche Energieanlagen sich wo durchsetzen. Aber die erwähnte Kopplung der Energieangebote braucht eine Koordination. Die Frage ist, wer sie übernehmen soll. Vieles ist den Kantonen überlassen, die unterschiedliche Tempi anschlagen. So kann es passieren, dass mancherorts die Elektrifizierung etwa der Autos sehr schnell voranschreitet, die entsprechende Infrastruktur aber noch nicht da ist.

Gibt es auch einen Musterschüler?

St. Gallen macht zum Beispiel vor, was ich unter Masterplan meine. Die Stadt hat ausgelotet, welche Areale mit Fernwärme versorgt werden, welche mit Wärmepumpen. Sie hat einen Plan, wo es Strom- und Wärme produzierende Blockheizkraftwerke braucht, sobald der Atomstrom wegfällt. Letztere funktionieren zwar vorderhand mit Gas, das aber später durch erneuerbare Brennstoffe wie Biogas oder synthetische Brennstoffe ersetzt werden soll.

«Die Frage nach neuen Kernkraftwerken kommt zu früh».

Nach der Abstimmung fordert vor allem die SVP neue Kernkraftwerke, um bei Strommangel reagieren zu können. In Ihrem Bericht kommt diese Option nicht vor. Warum? 

Im realistischen Szenario unseres Berichts haben wir vereinfacht gesagt drei Energiepfeiler, Wasserkraft, Solarenergie und eine Energiequelle für den Winter, die auf Abruf verfügbar sind. In diesen Modellen gibt es keinen Stromimport. Verfechter der Nuklearenergie sehen in Kernkraftwerken den dritten Pfeiler. Wir setzen auf erneuerbaren synthetischen Brennstoff für Gas- oder Blockheizkraftwerke. Wir brauchen ohnehin sehr viel davon, weil in einer CO₂-freien Energieversorgung auch der Luft- und der Schwerverkehr fossilfrei sein müssen.  Insofern macht das mehr Sinn im Vergleich zu Kernkraft. 

Wasserstoff liesse sich aber auch durch Kernkraft im Inland produzieren.

Das ist grundsätzlich möglich, genauso wie die nukleare Stromerzeugung an sich. Entscheidend ist dabei, ob und wann zukünftige, nachweisbar sichere und kostengünstige Kernkraftwerke auf dem Markt etabliert sein werden und wie man in der Schweiz mit den radioaktiven Abfällen umgehen will.  Die Frage nach neuen Kernkraftwerken kommt zu früh. Es ist anzunehmen, dass wir erst etwa um 2035 wissen, ob zum Beispiel für die Schweiz kleine modulare Reaktoren ein Thema sein könnten.  Für robuste Investitions- und Politikentscheidungen braucht es international Erfahrung mit Systemen der neuen Kernkraftgeneration.  Erst dann kann sich ein Investor ein Bild davon machen, ob es sich lohnt in solche Reaktoren zu investieren. Die Frage nach Kernkraft stellt sich deshalb für die Schweiz erst dann, die Antwort ist davon abhängig, wie weit die Energiewende mit erneuerbarer Energie fortgeschritten ist. 

Verfechter des Solarstroms können sich vorstellen, auch einen grossen Teil des Winterstroms durch Fotovoltaik zu produzieren.

Ich halte das für nicht realistisch. Ich gebe Ihnen dazu ein Beispiel. Nehmen wir an, die Solarenergie produziert im Mittelland pro Jahr 25 Terawattstunden (TWh) Strom. Dann werden etwa 17 im Sommer und 8 im Winter fliessen. Dazu kommt Elektrizität aus Biomasse. So werden aber im Winter ohne Kernkraft in Zukunft etwa 10 bis 15 Terawattstunden fehlen. Wenn man diese Menge durch PV ersetzen will, muss man weitere 30 TWh dazu bauen. Das schaffen wir kaum, selbst wenn nicht nur auf Dächern und Fassaden, sondern in den Alpen und im Mittelland grosse Solaranlagen gebaut werden.

Anlagen in den Alpen wie die Solar-Grossanlage des Elektrizitätswerks der Stadt Zürich (EWZ) am Albigna-Stausee braucht es in Zukunft deutlich mehr. 

Die grosse Menge synthetischer Treibstoffe lässt sich nur im Ausland produzieren. Damit begeben wir uns wieder in eine grosse Abhängigkeit.

Das ist nicht vergleichbar mit heute. Richtig ist, dass die Erzeugung der notwendigen synthetischen Treibstoffe in unserem Szenario zusätzliche elektrische Energie im Ausmass des künftigen Stromkonsums in der Schweiz verlangt. Das ist in der Schweiz durch erneuerbare Energie nicht möglich. Aber dank der Elektrifizierung, die viel effizienter ist als die fossile Energieversorgung, brauchen wir weniger Energie in Form von synthetischen Brenn- und Kraftstoffen. Wir können unsere Importabhängigkeit von heute 75 auf 40 Prozent reduzieren. Kommt hinzu, dass unsere fossilen Brennstoffe vorwiegend von politisch kritischen Staaten stammen. Wasserstoff, Methan oder synthetisches Kerosin für den Luftverkehr liessen sich in Staaten kostengünstig produzieren, wo es extrem sonnig ist oder viel Wind hat, in Süd- und Mittelamerika etwa oder in Nordafrika und Nordeuropa. Die Auswahl möglicher Partner wäre viel grösser als heute.

Überraschend ist, dass die Gesamtkosten für die ausländische Produktion synthetischer Brennstoffe nicht niedriger sind als heute für den Import fossiler Energie.

Das stimmt, weil die Produktion teurer sein wird. Aber es ist davon auszugehen, dass unsere Volkswirtschaft in Zukunft auch produktiver sein wird. Der Anteil der Ausgaben für Energieimporte am Bruttoinlandprodukt wird kleiner sein.

Noch hat man allerdings nicht den Eindruck, dass die Wasserstoffproduktion in den besagten Regionen einen Boom erlebt.

Wir müssen dafür bereits heute die internationale Umgebung ausloten. Wir müssen in diese Länder investieren und langfristige Abkommen abschliessen, damit die Infrastruktur für die Produktion aufgebaut wird. Und das muss heute passieren, da sind wir wieder bei der erwähnten fehlenden Synchronisierung.

Wir haben nun vorwiegend über die Energieproduktion gesprochen, in Ihrem Bericht spielt aber auch die Energieeffizienz eine wichtige Rolle. Sie sprechen von «Effizienz first».

Je weniger Energie wir nachfragen, desto weniger müssen wir bereitstellen. Geräte werden zwar immer effizienter, aber das Wachstum und ineffizientes Verhalten machen den Bonus zunichte. Deshalb sollte eigentlich «Effizienz first» gelten: Der effiziente Einsatz einer Wärmepumpe ist nur dann möglich, wenn zuerst das Haus wärmegedämmt ist. Eine Elektrifizierung des Verkehrs ist eigentlich nur sinnvoll, wenn die Zahl der SUV reduziert wird. Uns ist aber klar, dass es schwierig ist, politisch die entsprechenden Lenkungsmassnahmen einzuführen.

Dieses Interview wurde erstmals am 18. August 2022 publiziert.