Digitales TarifsystemOhne Abo und Billett unterwegs: Im ÖV soll alles einfacher werden
Reisende sollen sich künftig keine Gedanken mehr machen müssen, ob sie ein Abo brauchen und welches Billett sie lösen sollen. Die ÖV-Branche tüftelt an einem neuen System, das beides überflüssig machen soll.

Das richtige Ticket oder Abo für eine geplante Zugfahrt zu finden, kann ganz schön anstrengend sein. Allein die korrekte Strecke zu wählen, ist oft eine Herausforderung, von der Wahl des Fahrausweises ganz zu schweigen. Diesen Entscheid möchte die ÖV-Branche ihren Kundinnen und Kunden künftig abnehmen: Alliance Swiss Pass tüftelt an einem gänzlich neuen, digitalen Tarifsystem, das die Branchenorganisation am Mittwoch an einem Hintergrundgespräch den Medien präsentierte. «Es soll nicht schneller oder billiger werden, aber einfacher», kündigten die Projektleiter an.
Worum geht es?
Das Projekt heisst intern «myRide» und verfolgt ein ambitioniertes Ziel: Die Reisenden sollen im Normalfall künftig keinen Fahrausweis mehr vor der Fahrt kaufen. Stattdessen werden ihre Reisen in einem digitalen «Reisetagebuch» aufgezeichnet und nachträglich anhand eines landesweit einheitlichen E-Tarifs abgerechnet. Dieser soll an das Nutzerverhalten angepasst werden und sowohl Gelegenheitsreisenden als auch Vielfahrerinnen optimale Angebote vorschlagen.
Die Fahrgäste müssen sich keine Gedanken mehr machen über Billettkauf, Reiseweg oder Gültigkeitsdauer. Sie reisen mit einem «intelligenten Taxameter» und profitieren damit vom selben Komfort, den momentan nur GA-Besitzerinnen und -Besitzer geniessen. Anders als diese zahlen sie aber nur für die Kilometer, die sie auch tatsächlich gefahren sind.
Wozu braucht es das überhaupt?
Das jetzige Tarifsystem ist historisch gewachsen und beruht auf nationalen ebenso wie auf regionalen Tarifwelten. Wo sich diese überschneiden, wird es nicht nur kompliziert, sondern auch ungerecht. Wer zum Beispiel von Bern auf den Jaunpass fährt und für die ganze Strecke ein Billett löst, zahlt deutlich mehr, als wenn er nur ein Ticket bis Freiburg kauft und erst dort die Weiterfahrt zahlt: Gemäss Alliance Swiss Pass sind es im ersten Fall total 23.60 Franken, im zweiten nur 15.50 Franken. Die erhebliche Preisdifferenz wird damit erklärt, dass der grösste Teil der Strecke auf Freiburger Verbundgebiet liegt.
Das neue System soll national einheitlich sein und vermehrt auf die individuellen Bedürfnisse der Reisenden eingehen. So soll eine neue, einfache, kundenorientierte und hürdenlos zugängliche Tarifwelt entstehen, die am Ende mehr Menschen als heute dazu verleitet, den ÖV zu benutzen – weil es einfacher wird.
Wer steht dahinter?
Gemäss Alliance Swiss Pass wird das Vorhaben von allen 250 Transportunternehmen und 18 Verbünden unterstützt, die der Branchenorganisation angehören – angefangen bei den SBB bis hin zu kleinen Regionalbahnen. «Die Branche ist sich einig – alle wollen das», erklärte Alliance-Swiss-Pass-Geschäftsführer Helmut Eichhorn bei der Präsentation.
Am Versuch sind auch der Bund, die Kantone sowie die Städte und Gemeinden beteiligt. Allerdings ist noch sehr vieles offen und nichts entschieden. «Wir befinden uns in einem Experiment. Es kann auch völlig anders herauskommen als erwartet», heisst es.
Wo liegen die grössten Knacknüsse?
Das System funktioniert nur mit Tracking. Dies wird nur akzeptiert, wenn es anonym erfolgt. Eine technische Lösung, welche das ermöglicht, liegt aber noch nicht vor. Es ist auch nicht klar, wie das «intelligente Taxameter» funktionieren soll: über eine App auf dem Smartphone, eine smarte Uhr oder mithilfe der E-ID? Ebenso wenig steht fest, wie die angestrebte faire Preisgestaltung, die es für das Vertrauen der Kundschaft braucht, aussehen soll. Vorbilder fehlen: In Städten wie Paris oder London gibt es zwar ähnliche Preissysteme, aber nirgendwo so viele Anbieter oder ein mit der Schweiz vergleichbares föderalistisches System. «Wir beschreiten Neuland», formulierte es Eichhorn. Eines, das am Ende auch politisch abgesegnet werden muss.
Wie sieht der Zeitplan aus?
Die Testphase ist Anfang dieses Jahres gestartet und soll Ende 2024 abgeschlossen sein. Ein erster Pilot läuft in der Region Zürich, wo die Bedürfnisse der Kundinnen und Kunden des Tarifverbunds Z-Pass ausgelotet werden. Weitere Regionen werden möglicherweise folgen.
Nach der zweijährigen «Laborphase» wird über das weitere Vorgehen entschieden. Für die Umsetzung des Projekts rechnen die Verantwortlichen mit zwei bis drei Jahren. Eingeführt werden könnte der neue E-Tarif mit dem «Postpricing» im Jahr 2027.
Was geschieht mit GA, Halbtax, Streckenabo und Co.?
Alliance Swiss Pass rechnet nicht damit, dass sämtliche Kunden umsteigen werden. Die bestehenden Angebote wie das Generalabonnement, das Halbtaxabo, die Strecken- und Verbundabos soll es deshalb weiterhin geben. Parallel laufende Projekte wie das für 2024 angekündigte Guthaben-Abo werden weitergeführt. Und es soll weiterhin möglich sein, auch ohne Handy und Kreditkarte ein Billett zu kaufen – beziehungsweise den ÖV zu benutzen.
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