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Umstrittene Corona-Strategie
Niederländer haben genug vom
Zickzackkurs ihrer Regierung

Abstand halten: Holländerinnen und Holländer Anfang Juni am ersten «Corona-sicheren» Dance-Event in Nijmegen. 
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Das Coronavirus hat alle europäischen Gesellschaften getroffen. Reagiert haben sie unterschiedlich. Während etwa der Bundesrat in der Schweiz Mitte März den Shutdown beschloss, übersahen die Schweden beim Versuch, entspannt durch die Krise zu manövrieren, offenbar einige Klippen. Weniger bekannt ist, dass auch die Niederlande ein riskantes Spiel spielen und darüber widersprüchlich informieren.

Dort entschied man sich für einen «intelligenten» Lockdown: strenger zwar als in Schweden, aber betont locker und weniger «autoritär» als in den Nachbarländern. Fast ohne Widerspruch der Öffentlichkeit. Das Ergebnis: nicht so schlecht wie in Grossbritannien oder Schweden, aber auch nicht gut. Bei der Übersterblichkeit durch Covid-19 liegt das Land im Vergleich weit oben, fast auf dem Niveau Italiens.

Das Virus kontrolliert verbreiten

Wie Grossbritannien und Schweden zählen die Niederlande zu den Staaten, die zunächst auf das Prinzip der Herdenimmunität setzten. Ziel ist demnach nicht, das Virus so stark wie möglich einzudämmen. Vielmehr akzeptiert man, dass sich der widerstandsfähige Teil der Bevölkerung infizieren kann, während Ältere und Vorerkrankte so gut wie möglich isoliert werden. Exakt so formulierte es der niederländische Premier Mark Rutte am 16. März in einer Fernsehansprache. Ein grosser Teil der Bevölkerung werde sich anstecken, sagte er, das sei «die Realität». Aber: Solange es keinen Impfstoff gebe, «können wir die Ausbreitung des Virus verlangsamen und gleichzeitig eine kontrollierte Gruppenimmunität aufbauen». 

Diese Theorie war schon damals hoch umstritten, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnte davor, der britische Premier Boris Johnson war nach Kritik hektisch davon abgerückt, das Londoner Imperial College hatte auf gravierende Risiken der Herdenimmunitäts-These hingewiesen. Ruttes wichtigster wissenschaftlicher Berater Jaap van Dissel, oberster Virologe am Reichsinstitut für Volksgesundheit und Umwelt (RIVM), hielt dennoch daran fest: «Der Gedanke ist: Wir wollen das Virus kontrolliert unter jenen sich verbreiten lassen, die damit wenig Probleme haben», sagte er gleich nach Ruttes Rede. 

Verfolgt eine wankelmütige Corona-Strategie: Der niederländische Premierminister Mark Rutte.  

Zwei Tage später machte Rutte, der wohl gemerkt hatte, dass er einer heiklen Idee folgte, eine verbale Kehrtwende. Gruppenimmunität sei nie das Ziel seiner Regierung gewesen, sagte er im Parlament. Sie könne höchstens langfristig die Folge sein. Dass er damit den Aussagen aus seiner TV-Rede eklatant widersprach, wurde in der niederländischen Öffentlichkeit kaum registriert. Der Premier erhielt grosses Lob von fast allen Parteien, und auch kritische Medien priesen ihn als «Staatsmann» und «Präsidenten» – unübliche Begriffe in den Niederlanden. Was die «Gruppenimmunität» betraf, achtete man in der Regierung und beim RIVM nun darauf, den diskreditierten Begriff nicht mehr zu verwenden.

Wenige Tests, kaum Nachverfolgung

Ansonsten ähnelten die unmittelbaren Massnahmen gegen das Virus im Prinzip dem Vorgehen anderswo. Die Regierung schloss Geschäfte, Lokale und schliesslich auch Schulen und Kitas, verbot Veranstaltungen, das öffentliche Leben kam zum Erliegen. Stringent aber wirkte die Strategie nicht, sondern zögerlich, halbherzig. So wurde lange wenig getestet, relativ wenige Menschen wurden eingesetzt, um Kontakte Infizierter nachzuverfolgen, die Verwendung von Mund-Nasen-Schutzmasken wurde Wochen später als in den Nachbarländern propagiert.

Solche Corona-Tests gab es zu wenig: Drive-in-Zentrum in Rotterdam. 

Das Vorgehen der Behörden liess vermuten, dass die Idee der Herdenimmunität weiterhin in den Köpfen der Verantwortlichen spukte, es ihnen weniger um die effektive Bekämpfung des Virus gehe, als darum, die Folgen von dessen Verbreitung zu lindern. Öffentliche Äusserungen stützten den Verdacht. Man könne das Virus nicht stoppen, sagte Ann Vossen, Mitglied des nationalen Outbreak Management Team (OMT), im April. «Das ist nicht das Ziel. Wir wollen, dass es sich langsam verbreitet, mit möglichst geringen Folgen für das Gesundheitssystem.» 

Die Medien folgten nahezu kritiklos der Linie des RIVM, van Dissel erhielt wohlwollende Porträts. Einwände, etwa anderer Virologen, waren nicht zu vernehmen. Nur in sozialen Netzwerken regten sich von Mitte März an besorgte Bürger und schufen Plattformen wie Containmentnu.nl (Eindämmung jetzt). Sie forderten die konsequente Bekämpfung des Virus gemäss WHO-Empfehlungen («testen, nachverfolgen, isolieren»). 

Kritiker: Die Forscher sind nicht unabhängig

Einer der Aktivisten ist Jaap Stronks. Der 39-Jährige zählt sich politisch zur Linken, hat digitale Kampagnen für Grüne und Sozialdemokraten entworfen. Den Kurs van Dissels hält er für fatal. Besonders empört ihn aber die Art, wie Regierung und RIVM kommunizierten. In Wahrheit sei das Erreichen von Herdenimmunität immer Teil ihrer Strategie geblieben, ohne dass sie das zugegeben hätten, sagt er. Sie hätten die Bevölkerung hinters Licht geführt. Stronks glaubt einen Grund für das Protestdefizit zu kennen: einen Fall von «Gruppendenken». Potenzielle Kritiker, etwa aus der Wissenschaft oder von Verbänden, seien «kooptiert» worden und entweder Teil des Dreiecks aus Kabinett, RIVM und OMT oder finanziell abhängig davon.

Der Amsterdamer Gesundheitsökonom Xander Koolman, selbst Regierungsberater, bestätigt die These. Wissenschaftler in den Niederlanden seien weniger unabhängig als in der Schweiz. Wer zum Coronavirus forschen wolle, beantrage Geld bei der Organisation für Gesundheitsforschung, die wiederum das RIVM um Begutachtung bitte. «Keiner der Virologen oder Epidemiologen, die auf dem Gebiet arbeiten, will seine Karriere beschädigen.»

Erst jetzt werden Fragen gestellt

In die grossen Zeitungen haben es Stronks und seine Mitstreiter noch nicht geschafft, aber ihr Anliegen wird nun wahrgenommen. Auch von den Parteien. Die hatten sich zunächst gescheut, den breiten Konsens zu verlassen, der sich in Krisenzeiten typischerweise bildet. Jetzt werden Fragen gestellt. Am hartnäckigsten von Lilian Marijnissen, Parteichefin der Sozialisten. Angesichts der vorliegenden Informationen bleibe bei ihr das Gefühl hängen, sagte sie jüngst im Parlament, «dass man eben doch nach Gruppenimmunität strebt und das Virus ein bisschen herumlaufen lassen will». 

Premier Rutte wies den Vorwurf empört zurück. «Es gibt keinen geheimen Pakt oder Bilderberg-artigen Club, der sagt: ‹Wir verbreiten jetzt das Virus in den Niederlanden›, also wirklich nicht.» Warum aber hat Chefvirologe van Dissel den Verdacht kürzlich erneut genährt? Gruppenimmunität sei «noch immer» die einzige Chance, sagte er der Zeitung «Volkskrant». «Weil es sich um ein pandemisches Virus handelt, ist es eine Illusion zu meinen, es werde verschwinden. Das heisst, dass man doch eine Immunität aufbauen muss.»

In Schweden wird die Strategie der Regierung auf Druck der Opposition nun von einer Kommission untersucht. In den Niederlanden ist es noch nicht so weit. Aber es könnte sich lohnen.