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Meinung

Kommentar zum Nato-Gipfel
Neutralität ist für die Ukraine keine Option mehr

Soldaten bewachen den Tagungsort im litauischen Vilnius, wo am Dienstag der Nato-Gipfel beginnt.
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Keine fünf Wochen war der Krieg alt, als der ukrainische Unterhändler einem Entsandten Russlands in Istanbul einen Vorschlag unterbreitete: Die Ukraine würde ihre Neutralität versprechen – dafür müsse Russland aus dem Land abziehen. Zugleich verpflichte sich eine Allianz aus USA, Grossbritannien, Frankreich, Türkei, Deutschland, Kanada, Polen und Israel zum militärischen Beistand für den Fall eines erneuten Angriffs.

Der Vorschlag wurde in Moskau nicht ernst genommen und im Westen nicht unterstützt. Möglicherweise war dies der letzte Moment, in dem eine Neutralität der Ukraine tatsächlich denkbar gewesen wäre.

Wenn am Dienstag die Nato-Mitglieder das Schicksal der Ukraine beraten, wird es eine Neutralität als Option nicht wirklich geben. Anderthalb Jahre Krieg haben die Ukraine fest an die Nato und die EU gebunden. Oder umgekehrt: Die westlichen Bündnisse haben durch Worte und Taten klargemacht, dass dieser Überfallskrieg auch ihnen gilt – und mit ihrer Hilfe abgewehrt wird. Die Ukraine ist im Westen angekommen. Es bleibt allein die Frage, wann und zu welchem Preis diese Bindung politisch besiegelt wird.

«Es gibt keinen Grund, Putins Geschichtsbild und sein Verständnis von Souveränität und Einflusszonen zu teilen.»

Diese Frage ist nicht trivial, sie entscheidet über die Sicherheit des Westens und ein Stück weit über die Zukunft Russlands. Ganz sicher entscheidet sie über das Verhältnis des Westens zu Russland, weil es exakt jene Frage von Neutralität, Westbindung und Bündnisorientierung war, die Russlands Herrscher Wladimir Putin sein politisches Leben lang radikalisiert und schliesslich in den Krieg getrieben hat.

Es gibt keinen Grund, Putins Geschichtsbild und sein Verständnis von Souveränität und Einflusszonen zu teilen; dies ist das Jahr 2023, und das Recht auf Selbstbestimmung wird auch vor Russland nicht haltmachen. Aber: Für den unmittelbaren Fortgang des Krieges und die Optionen zu seiner politischen Beendigung ist die Mitgliedschaft der Ukraine in westlichen Bündnissen von zentraler Bedeutung.

Rücksichtslos und absprachewidrig?

Immer wieder wird der Nato zum Vorwurf gemacht, sie habe sich rücksichtslos und absprachewidrig nach Osten ausgedehnt und mithin Russland «eingekreist». Diese Behauptung ist ahistorisch, apolitisch und arrogant. Wer sich die Mühe macht und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen studiert, kommt schnell zu einem anderen Urteil. Die Ursache für das Zerwürfnis zwischen Russland und dem Westen liegt in einem diametral entgegengesetzten Staats- und Rechtsverständnis. Wer das russische Macht- und Beherrschungsmodell ablehnte, dem blieb nur die Zuflucht im westlichen Bündnis. Wer dies nicht konnte – Georgien und die Ukraine etwa –, bekam Putins Knute zu spüren.

Das Dilemma, das die Nato nun umtreibt, lautet: Könnte die Aufnahme der Ukraine in die Nato dem Spuk ein Ende bereiten und den Krieg beenden? Oder mit Blick auf Putin formuliert: Würde es den russischen Diktator abschrecken, wenn er die geballte politische und militärische Entschlossenheit des Westens gegen sich spüren würde? Immerhin könnte eine Nato-Aufnahme, für die mittlerweile sogar der Putin-Versteher Recep Tayyip Erdogan plädiert, jenes wuchtige politische Signal sein, das dem russischen Präsidenten die Aussichtslosigkeit seiner Invasion klarmacht.

Kein Land ist bereit, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen.

Die Antwort ist eigentlich längst gefallen, an der Aufnahme führt kein Weg vorbei. Dennoch wird das Gipfel-Communiqué aus taktischen Gründen sagen: Man weiss es noch nicht, man hält die Sache für unberechenbar, die Aufnahme wird Teil eines grossen Verhandlungspakets sein. Der zweite Grund ist viel naheliegender und leitet seit Kriegsbeginn das westliche Verhalten: Kein Land ist bereit, für die Ukraine in den Krieg zu ziehen. Also wird Kiew auf die Mitgliedschaft warten müssen, bis der Krieg vorbei ist.

Allerdings sollte die Nato die Augen nicht davor verschliessen, dass ein Bündnis-Vakuum Unfrieden schafft. Eine neutrale Ukraine, stets in ihrer Sicherheit bedroht und im Kampf gebunden, wird auf Dauer ein Risiko bleiben – und sich eines Tages vielleicht sogar nuklear bewaffnen.

Wladimir Putin wird die Ukraine stets als illegitimes Gebilde und berechtigtes Angriffsziel sehen. Aus Perspektive der Nato bedeutet dies: Russland wird auf absehbare Zeit militärisch abgeschreckt werden müssen. In dieser Abschreckungsstrategie kann es für die Ukraine nur einen Platz geben, im Bündnis. Wann sich die Tore öffnen? Vielleicht am Ende der momentanen Kriegsphase, vielleicht später. Aber sie werden sich öffnen, weil die Mitgliedschaft das wertvollste Instrument ist, das die Nato zur Abschreckung und zur eigenen Sicherheit aufbieten kann.