Neue SP-FraktionschefinSogar SVP-Hardliner Glarner hat nur Lob für sie übrig
Samira Marti legt eine aussergewöhnliche Politkarriere hin. Nun wird die Baselbieterin Co-Fraktionschefin der SP. Was ist das Erfolgsrezept der 29-Jährigen?

Ein Mann Mitte vierzig, mit halb leerem Bierglas in der Hand, schüttelt den Kopf. «Die SP kommt mir manchmal einfach zu brav vor.» Er sitzt mit gut 25 anderen Politikinteressierten in einem lauschigen privaten Garten in Liestal.
Die Gruppe diskutiert an diesem Abend seit gut einer Stunde mit SP-Nationalrätin Samira Marti über alleinerziehende Mütter, schlecht bezahltes Gesundheitspersonal – und jetzt gerade über die Migration. «Die SVP nimmt euch in diesem Thema Wählende weg. Ihr könntet manchmal wirklich deutlicher sein.»
Marti, gebürtige Liestalerin, hört geduldig zu. Es ist ihr mittlerweile zwölfter «Polit-Apéro». Oder waren es mehr? Sie hat aufgehört zu zählen. Mit solchen Gesprächsrunden im kleinen Kreis macht die Partei im ganzen Land Wahlkampf. Die meisten hier im Garten kennen Marti. Und nutzen die Begegnung, um der 29-Jährigen alles Mögliche an den Kopf zu werfen.
Auf den Tisch hauen, laut werden, dazwischenfahren? Das kennt man von Samira Marti nicht.
Marti hört zu. Sie lässt das Gegenüber ausreden. Sei es der Götti oder Papa (beide sitzen hier im Garten), die Journalistin oder der SVP-Sympathisant. Auf den Tisch hauen, laut werden, dazwischen fahren? Das kennt man von Samira Marti nicht.
Vielleicht noch nicht. Am 1. September wird sie zur Co-Chefin der Bundeshausfraktion gewählt. Im Duo mit Samuel Bendahan. Der Waadtländer ist ihr Sitznachbar im Parlament – und ebenfalls Ökonom. In der Deutschschweiz wird Marti die tragende Figur sein.

Ab sofort muss sie managen. Aufziehende parteiinterne Gewitter erkennen. Dafür sorgen, dass es nicht blitzt und donnert, weil Parteiexponenten aus der Reihe tanzen. Stichwort: Jositsch-Dilemma. Auch das muss sie lösen. Marti muss die Partei möglichst unbeschadet durch die Bundesratswahlen bringen.
Das traut ihr nicht nur die SP-Fraktion zu. Sondern auch Politschwergewichte anderer Parteien. Egal, wen man fragt: Marti gilt als «das grosse Polittalent».
Von der Juso-Politikerin in die SP-Schaltzentrale
Aufgewachsen ist Marti im «hintersten Kraut», wie sie es selber nennt. Ziefen, knapp 1600 Einwohnerinnen und Einwohner. Ein ziemlich linkes Dorf im eher konservativen Baselbiet.
Marti ist das älteste von drei Kindern. Die Eltern: beide Lehrpersonen. Sie teilen sich die Kinderbetreuung fifty-fifty auf. Ein moderner Haushalt. Und ein politischer. Der Vater kämpft für die Abschaffung der Armee, die Mutter gegen das geplante AKW im nahen Kaiseraugst.
Mit 12 entfacht sich das politische Feuer erstmals bei Marti. Ihre Sekundarschule soll aus Spargründen schliessen. Gemeinsam mit Klassenkameradinnen wehrt sie sich, organisiert Demos – die Schule bleibt offen.
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Mit 16 demonstriert Marti als Gymnasiastin vor dem Baselbieter Regierungsgebäude. Wieder geht es um ein Sparpaket im Bildungsbereich. Und wieder werden Abbaupläne verhindert. Marti tritt noch im Gymi der Juso und der SP bei.
«Das war ihre Idee», sagt der Vater. Auch wenn Peter Marti sichtlich stolz auf seine Tochter ist: Er will keine Lorbeeren ernten. Schliesslich sei er ihretwegen irgendwann der SP beigetreten, nicht umgekehrt. «Sie hatte immer schon viele Ideen, wollte etwas anreissen. Ich bin wirklich schwer beeindruckt, wie sie das bis heute tut.»
Auf die Tochter abgefärbt hat der Vater dennoch. Sie wirkt bescheiden. Dass Zeitungen gerne über ihren erfolgreichen Jugendkampf gegen Bildungsabbau schreiben, behagt ihr nicht. «Ich hatte keine tragende Rolle, die Organisation lag bei anderen.» Und trotzdem erinnert sie sich, wie «super motivierend» es war, etwas zu bewegen.
Mit 19 wird Marti Co-Präsidentin der Juso Baselland.
Ihrem Co-Partner Jan Kirchmayr ist schon damals bewusst, dass seine Kollegin bald weiterziehen wird. «Ich realisierte schnell, was für ein Polittalent sie ist. Sie hatte immer schon eine unglaublich schnelle Auffassungsgabe». Kirchmayr beschreibt Marti als «ein Arbeitstier», empathisch und trotzdem fähig, «auch mal in aller Deutlichkeit den Tarif durchzugeben».
Der ewige Funiciello-Vergleich
Mit 23 wird Marti Vizepräsidentin der kantonalen SP. Und mit 24 rückt sie als damals jüngste Parlamentarierin in den Nationalrat nach.

Nur einmal wird die aufstrebende Baselbieterin auf ihrem Weg nach oben ausgebremst. Oder wie es der «SonntagsBlick» erst kürzlich wieder titelte: «Nur gegen Funiciello hat sie verloren». 2016, als ihr Funiciello den Posten als Juso-Präsidentin wegschnappt. Man habe es der Baselbieterin damals nicht zugetraut, heisst es von Nahestehenden. Sie sei halt «nicht so ein Polteri» wie ihre Kontrahentin gewesen.
«Jon Pult fragt auch niemand: Warum sind Sie anders als Cédric Wermuth?»
Dass sie bis heute mit ihrer Parteikollegin verglichen wird, nervt Marti. «Es ist halt typisch, dass man zwei junge Frauen gegeneinander ausspielt. Das beobachte ich auch bei der Berichterstattung über Bundesrätinnen: Man ist entweder «die eiserne Lady» oder «die nette Oma».» Sie will weder noch sein. Es gebe Hunderte Arten, zu politisieren. Und bei Männern passiere das schliesslich nie: «Jon Pult fragt auch niemand: Warum sind Sie anders als Cédric Wermuth?»
Marti will Ruhe ausstrahlen. Klarheit. Die Rolle als Provokateurin liegt ihr nicht. «Aber ich will nicht scheu wirken», betont sie. Ein Beispiel dafür liefert sie 2021.
Der rechtsbürgerliche «Nebelspalter» listet die «sonderbarsten Vorstösse der Frühjahrssession» auf. Marti ist gleich mit zweien vertreten. Beim zweiten schreibt das Satiremagazin: «Noch ein Bild von Frau Marti erspare ich Ihnen an dieser Stelle». Marti reagiert mit einem Selfie auf Twitter – und streckt dem Magazin den Mittelfinger entgegen. Eine ungewohnte Seite. Die Schlagzeilen sind ihr garantiert.
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Ein Versuch, das brave Image abzuschütteln? «Nein», sagt Marti entschieden. «Ich lache auf dem Bild, das finde ich einen entscheidenden Unterschied. Es war der Versuch einer ironischen Reaktion auf eine sexistische Aktion.»
Respekt bis weit ins rechte Lager
Marti lässt sich nicht aus der Fassung bringen. Es ist womöglich diese Eigenschaft, die sie innerhalb der SP weit nach oben gebracht hat. Trotz ihrer Juso-Vergangenheit hat sich Marti den Respekt bis weit nach rechts erarbeitet.
«Sie ist zwar eine hartnäckige Linke, aber immer sehr gut vorbereitet. Was sie sagt, hat Hand und Fuss», sagt SVP-Hardliner Andreas Glarner. Und stichelt: «Sie ist kein Plauderi wie gewisse andere.» Er habe ihr gar per Whatsapp zum neuen Posten gratuliert. Auch wenn er nichts von Co-Leitungen halte: «Ich traue ihr das absolut zu.»
Glarner und Marti sitzen gemeinsam in der Staatspolitischen Kommission. Die beiden könnten in Asylfragen nicht unterschiedlicher ticken. Erst kürzlich brachte Marti die Initiative «Armut ist kein Verbrechen» durch: Menschen, die länger als zehn Jahre in der Schweiz leben, können nicht mehr ausgewiesen werden, wenn sie Sozialhilfe benötigen.
«Die SVP arbeitet mit Angst, wir mit Hoffnung. Das war schon immer schwieriger.»
Glarner war entschieden dagegen. Doch die Initiative kam sogar durch den Ständerat, wo es migrationspolitische Fortschritte sonst schwerhaben.
Chancengleichheit: Ein Grundsatz, der sich durch Martis politische Arbeit zieht. Mal setzt sie sich für die Arbeitsrechte von Pendelmigrantinnen ein, mal für den niederschwelligen Zugang zu Verhütungsmitteln. Und als Ökonomin hantiert sie geschickt mit Zahlen, wenn sie vor sinkenden Löhnen und steigenden Mieten warnt.
Mitte-Präsident Gerhard Pfister sitzt ebenfalls mit Marti in der Kommission. Auch er hat nur Lob für sie übrig: «Sie ist ein absoluter Profi. Sie hat eine ausgeglichene Art und ist eine gute Deal-Makerin.» Sie akzeptiere aber auch, wenn es mal keinen Deal gebe.

«Ich kann mit ihr heftig politisch streiten – und das mache ich zugegeben auch gerne –, gerade weil sie das nicht persönlich nimmt. Danach kann ich mit ihr trotzdem einen Kaffee trinken gehen.» Für Pfister bringt Marti die notwendigen Verhandlungsqualitäten mit, die es im Fraktionspräsidium braucht.
Mit 29 wird sie nun Co-Chefin der SP im Bundeshaus.
Kein autoritärer Stil gefragt
Das Duo Marti-Bendahan beerbt damit den langjährigen Fraktionspräsidenten Roger Nordmann. Er sagt, für den Posten brauche es die Fähigkeit, Konsens schaffen zu können. Viel Präsenz und Engagement. «Sie bringt das alles mit», so Nordmann. Dass sein Amt nun von zwei Personen geführt wird, hält er für sinnvoll: «Es ist enorm zeitaufwendig. Wenn man sich das teilen kann, umso besser.»
Die SVP findet zwar, Verantwortung lasse sich nicht teilen. «Wenn sie autoritär führen wollen, dann hat die SVP recht. Aber das ist in dieser Funktion nicht gefragt», sagt Nordmann.
Einzelkämpfe? Nichts für Marti. «Ich bin überzeugt: Zu zweit sind wir besser.»
Zurück im Liestaler Garten wollen es die 25 Personen nun endlich wissen: Ist die SP zu brav?

Marti blickt nach oben, überlegt kurz. «Die SP versucht sich durchaus in verständlicher Sprache, mit unseren kürzlich vorgestellten Wahlkampf-Slogans zum Beispiel.» Wie: «Lieber Lobby der Menschen statt Lobby der Konzerne». Oder: «Nicht nur Geldkoffer tragen. Sondern auch Mal die Verantwortung».
Zwar nicht so provokativ wie die SVP, gibt Marti zu. «Aber wir wollen ja nicht deren Stilmittel kopieren. Die SVP arbeitet mit Angst, wir mit Hoffnung. Das war schon immer schwieriger.»
Die Menge nickt. Der Papa lächelt. Der Mittvierziger prostet Marti zustimmend zu. Das Bierglas ist jetzt halb voll.
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