Serie: Unsere DialekteDer Dialekt, den niemand nachahmt
Aargauerdeutsch ist das Phantom unter den Schweizer Dialekten. Warum, erklärt der landesweit beste Kenner der Aargauer Mundarten . Und wir sagen: Wie man im Aargau mit dem eigenen Wischi-Waschi-Dialekt umgeht – das ist cool!
In der heutigen Folge unserer Serie befassen wir uns mit einem schwierigen Fall, nämlich dem Aargauer Dialekt. Hans-Peter Schifferle, im Aargau aufgewachsener Linguist und ehemaliger Chefredaktor des Schweizerdeutschen Wörterbuches «Idiotikon», hat sich jahrzehntelang mit der Aargauer Mundart beschäftigt, so intensiv wie wohl kaum ein anderer lebender Sprachwissenschaftler. Und Schifferle sagt: «Aargauer Deutsch ist ein Phantom.» Es sei eine Art Hilfsbegriff, der sich erst in der Konkretisierung realisiere. «Diese Konkretisierung ist unweigerlich vielstimmig und regional.»
Was bedeutet das genau? Es gibt im Kanton Aargau vier Mundartregionen, deren geografische Lage und Ausdehnung mehr oder weniger historischen Territorien und Untertanengebieten entsprechen. Der Südwesten mit dem Hauptort Aarau gehörte ab 1415 Bern, die Herrschaft über das nordöstliche Gebiet teilten sich die Acht alten Orte; den Südosten, das sogenannte Freiamt, beherrschten die Innerschweizer Orte sowie Zürich, während der Nordwesten, das Fricktal, bis 1802 wie die heute badische Nachbarschaft österreichisch war. Die Schnittlinie der vier Gebiete liegt beim Wasserschloss der Schweiz zwischen Brugg, Windisch, Gebenstorf und Untersiggenthal.
Entscheidend für die Behauptung, es gebe keinen Aargauer Dialekt in dem Sinne, wie es den Zürcher, Berner oder Ostschweizer Dialekt gibt, ist Folgendes: Es fehlen linguistische Merkmale, die für alle vier Aargauer Mundartgebiete gelten und gleichzeitig ausserhalb des Kantons Aargau nicht auch in anderen Dialekten vorkommen. Die gemeinsamen Merkmale der vier Regionen sind laut Schifferle ausserdem «absolut unmarkant», während spezifische Merkmale meist auch in angrenzenden Dialektgebieten auftreten.
Er redet fast wie ein Zürcher
Hans-Peter Schifferle zum Beispiel würden wohl die meisten, denen die dialektologische Vierteilung des Kantons Aargau nicht bewusst ist, für einen Zürcher halten. Das ist auch kein Wunder, weil er als Zurzibieter eine Mundart spricht, die strukturell dem Zürichdeutschen sehr nahe steht. Als heutige Unterschiede zum Zürichdeutschen nennt Schifferle, dass im Aargau wie im Luzerndeutschen die Vokale i und u «gesenkter» ausgesprochen und schriftlich oft als e und o wiedergegeben würden: «Chend», «Brogg» (Kind, Brücke). Ausserdem heisse es im Aargau «frooge», «Strooss» und «stoo» (fragen, Strasse, stehen) gegenüber zürcherischem «fraage» oder «frööge», «Straass» und «staa».
Die Mundart des Fricktals hingegen klingt für Aussenstehende ähnlich wie basel-landschaftliche Dialekte. Wenn Sie nach unten scrollen, hören Sie eine Dialektprobe der Fricktaler Autorin und Kabarettistin Patti Basler, die ihre eigene Mundart allerdings als «ziemlich abgeschliffen» bezeichnet. Das südwestliche Aargauer Mundartgebiet hingegen weist berndeutsche Elemente auf, etwa die unverkennbare l-Vokalisierung («Miuch»).
Die geografische Mittellage des Kantons Aargau, den es als politisches Gebilde erst seit 200 Jahren gibt, widerspiegelt sich also in seiner linguistischen: Ein Übergangsgebiet, das von westlichen und östlichen Merkmalen schweizerdeutscher Mundarten, von Zürichdeutsch, Berndeutsch und Baseldeutsch beeinflusst wird. Und in dem es an markanten lexikalischen oder phonetischen Elementen mangelt, die in der ganzen Deutschschweiz sofort von allen identifiziert werden könnten. Ein aargauisches Pendant zum berndeutschen «gäng», zum Walliserdeutschen «embri und embrüf», zu den hellen Vokalen der Ostschweizer Dialekte oder dem baslerischen Halszäpfchen-R – das gibt es alles nicht.
Es fehlt ein urbanes Zentrum
Was es im Aargau, anders als im Kanton Zürich oder Bern, ebenfalls nicht gibt, ist ein urbanes Zentrum mit grosser Ausstrahlungskraft auf den Rest des Kantons. Dies verhindert, dass sich bestimmte Dialektmerkmale gegenüber ländlichen Gebieten durchsetzen könnten – ein Prozess, der etwa das Zürichdeutsche im Laufe der Zeit zu einer ziemlich einheitlichen Mundart gemacht hat.
Aber welches sind die lautlichen Unterschiede zwischen den vier Aargauer Regionalmundarten? Es würde zu weit führen, detailliert darauf einzugehen. Stattdessen begnügen wir uns damit, zwei lautliche Phänomene anhand folgender grafischer Darstellung zu erwähnen. Die Grafik beruht auf dem Beispielsatz: «Ich habe die Fliegen gerne.»
Wie beim Wort «Fliege» im Beispielsatz verteilen sich die regionalen Lautvarianten etwa auch bei «tief» («tüüf/töif/tief»).
Und wie bei «gerne» im Beispielsatz zeigt sich der Ost-West-Gegensatz in Wörtern wie «Stèèrn/Stäärn», «fèèrn/fäärn», «Bèèrg/Bäärg», «Hèèrz/Häärz», «wèèr/wäär».
Im Aargau scheiden sich auch viele West-Ost-Gegensätze in der Wortbildung. So heisst es im Osten (Gebiete 2 und 3) «am Oobig» und im Westen (Gebiete 1 und 4) «am Oobe». Oder, ein weiteres Beispiel: die Plurale der Normalverben enden auf d («mer mached, ir mached, si mached» im Gebiet 3 und «mer machid, ir machid, si machid» im Gebiet 2), während es in den Gebieten 1 und 4 heisst: «mer mache, ir mache(d), si mache».
Den vier Gebieten lassen sich auch viele Wortschatzphänomene zuordnen, am bekanntesten ist die traditionelle Bezeichnung eines Bonbons, als «Täfeli» (Gebiet 1), «Zückerli» (Gebiet 2), «Zältli» (Gebiet 3), «Chröömli» oder «Gutsi» (Gebiet 4).
«Für mich sind die phonetischen, morphologischen und lexikalischen Unterschiede zwischen den vier Dialektregionen markant, in der Aussenwahrnehmung wohl deutlich weniger», sagt Schifferle. Ohne sich ein einziges Mal zu irren, gelang es dem Linguisten bei einem Auftritt in der SRF-Radiosendung «Schnabelweid», mehrere Sprecherinnen und Sprecher aus dem Kanton Aargau den vier Regionen zuzuordnen, in einigen Fällen sogar präzise einer Stadt oder einem Dorf.
Das liegt zwar mittlerweile fast zehn Jahre zurück, ist aber laut Schifferle auch heute noch möglich. Und dies selbst bei jungen Sprecherinnen und Sprechern. Hält man sich vor Augen, dass es sich insgesamt um ein eher kleinräumiges Gebiet handelt, denkt man daran, wie mobil die Leute heutzutage sind und wie viele täglich über die Kantonsgrenzen hinaus pendeln, dann muss man sagen: Diese dialektale Stabilität ist erstaunlich.
Die Sache mit «en Frau»
Aber Moment, als typisch Aargauerdeutsch gilt doch ein grammatikalisches Phänomen: «en» als unbestimmter weiblicher Artikel, «en Frau», «en Strooss», «en Farb». Haben wir doch noch ein Beispiel gefunden, das die vier Aargauer Mundarten verbindet und sie zugleich von den umliegenden Dialekten abhebt? Schifferle winkt ab. Das Phänomen komme nur in einem Gebiet vor, das von Brugg der Reuss entlang bis hinunter ins zürcherische Knonaueramt und gegen Westen hin vielleicht bis nach Lenzburg reiche. «Im Norden des Kantons hingegen, im Fricktal und im Zurzibiet, sagt niemand ‹en Frau›», betont Schifferle.
«Typisch aargauerisch» ist das Phänomen aber insofern, als es sonst im Schweizerdeutschen nicht vorkommt. Mit anderen Worten: Bei weitem nicht alle Aargauerinnen und Aargauer sagen «en Frau», aber wer es sagt, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Aargauerin oder ein Aargauer. Vielleicht wird es darum als Besonderheit des Aargauerdeutschen schlechthin wahrgenommen, zumal es sich um ein prägnantes Merkmal handelt. Was allenfalls denkbar, aber nicht gesichert ist: Dass es gelegentlich auch von Personen ausserhalb des erwähnten Gebietes verwendet wird, um linguistisch zu signalisieren: Ich stamme übrigens aus dem Aargau.
Typisch Aargauerisch: «ame»
Im Verlaufe des Gesprächs nennt Schifferle dann doch eine Wortform, die fast exklusiv im ganzen Kanton verwendet wird oder wurde: «ame» für jeweils. In den angrenzenden östlichen Dialekten lautet die verschliffene Form von mittelhochdeutsch «allweg» meistens «amig(s)», «amed» oder «amel«, in den westlichen «albe» oder «aube» und in den südlichen «alle» und «alig». «Ame» kommt oder kam ausserkantonal gerade noch im benachbarten solothurnischen Niederamt und im Baselbiet (neben andern Varianten) vor.
Dieses Einzelbeispiel ändert indessen laut Schifferle nichts daran: «Die Aussenwahrnehmung des Aargauer Dialekts ist gleich null. Es gibt keine andere Schweizer Mundart, die so wenig markant daherkommt.» Aargauerdeutsch fehlt deshalb normalerweise in den üblichen Ranglisten der beliebten und ungeliebten Dialekte, es schafft keine kantonale linguistische Identität, hat keine folkloristischen Einsprengsel und wird von Aussenstehenden nicht nachgeahmt.
Aargauerinnen und Aargauer: ziemlich cool
Stört das die Aargauerinnen und Aargauer? «Nein, das stört niemanden», antwortet Schifferle. Man wachse im Aargau im Bewusstsein auf, dass es keine einheitliche kantonale Mundart, sondern eine Vielzahl von Varianten gebe. Ändern lasse sich dies ohnehin nicht, also bringe es auch nichts, sich darüber aufzuregen. Dabei sei die Existenz der vier Teilgebiete zwar vielen vage bewusst, aber nur wenigen genau bekannt.
Im Bernbiet oder im Wallis veranstaltet man ein fast schon kultisches Brimborium um die eigene Mundart, und auch in anderen Teilen der Deutschschweiz driftet die Dialektliebe gelegentlich ins Kleingehäuselte ab. Da muss man sagen: Die dialektologische Gelassenheit der Aargauerinnen und Aargauer ist eigentlich ziemlich cool.
Falls Sie sich für die Aargauer Dialekte interessieren, sei ihnen das «Aargauer Wörterbuch Hunziker 2020» empfohlen.
Dieser Text ist erstmals am 26. März 2024 erschienen. Zur Lancierung unseres neuen Dialekt-Tests publizieren wir ihn erneut.
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