Multiple Sklerose «Ich lebe nur im Stand-by-Modus» – Schweiz meldet Rekord der MS-Fälle
Schweizer Fachleute zählen so viele Krankheitsfälle wie noch nie. Das unheilbare Nervenleiden hat die Lebensträume der 41-jährigen Ivy Spring durchkreuzt.
Auf wackeligen Beinen stakst Ivy Spring ein Wäldchen entlang. Wird der Boden holprig, klammert sie sich fester an ihren Rollator, geht aber unbeirrt weiter. Das Gerät sei ihr eine grosse Hilfe, sagt sie. «Bevor ich den Rollator hatte, musste ich immer auf den Boden starren, damit ich nicht stürzte. Jetzt fühle ich mich sicherer und nehme auch die entgegenkommenden Leute besser wahr.» Das regelmässige Gehtraining im Zürcher Oberland, wo sie lebt, ist ihr wichtig, auch wenn es ihr jedes Mal viel abverlange und sie danach für den Rest des Tages «erledigt» sei.
Ivy Spring leidet an multipler Sklerose, kurz MS genannt – einer fortschreitenden entzündlichen Erkrankung des zentralen Nervensystems. Ihr Leidensweg steht stellvertretend für die 18’000 Menschen, die in der Schweiz im MS-Register erfasst sind. Die soeben veröffentlichten Zahlen liegen rund 20 Prozent über den bisherigen Hochrechnungen. Fachleute rätseln über die genauen Ursachen für den Anstieg.
Bei MS greift das Immunsystem fälschlicherweise die eigenen Nervenzellen von Gehirn, Rückenmark und Sehnerven an, sodass es zu neurologischen Ausfällen kommt: Seh- und Gefühlsstörungen, Muskelverkrampfungen bis zu Lähmungen. Auch extreme Müdigkeit, die sogenannte Fatigue, tritt häufig auf. Die Ursache der Erkrankung ist noch weitgehend ungeklärt, doch scheint die genetische Veranlagung einen Einfluss zu haben. Heilbar ist MS bislang nicht, in vielen Fällen können mittlerweile aber Medikamente das Fortschreiten der Krankheit verlangsamen.
Auf einem Auge sah sie fast nichts mehr
Dass sich Ivy Spring bereits mit Anfang 40 wie eine gebrechliche Seniorin fortbewegen muss, hätte sie nie gedacht. Noch vor 15 Jahren schienen ihr alle Türen offen zu stehen. Nach erfolgreichem KV-Abschluss und einigen Jahren Berufspraxis begann sie eine Weiterbildung zur Direktionsassistentin. Ihr Ziel: eine besser bezahlte Stelle, damit sie und ihr künftiger Partner sich die Erwerbstätigkeit hätten aufteilen und eine Familie gründen können.
Es kommt anders: Als die Abschlussprüfung naht, stellt die junge Frau fest, dass sie zunehmend Mühe hat, sich den Lernstoff zu merken. Und als sie dann auch noch auf einem Auge plötzlich fast nichts mehr sieht, geht sie zum Augenarzt. Der stellt eine Sehnerventzündung fest und beruhigt: Das werde schon wieder. Kurz darauf bemerkt Ivy Spring, dass auch ihre Hände nicht richtig funktionieren, sich manchmal steif, wie gelähmt anfühlen.
In die «Psycho-Ecke» gestellt
Es folgt eine Ärzteodyssee: Mal werden ihr gegen die ständige Abgeschlagenheit mehr Bewegung und Sport empfohlen, mal Antidepressiva verschrieben. Die zunehmend verzweifelte Frau sieht sich zu Unrecht in die «Psycho-Ecke» gedrängt. Woran sie wirklich leidet, kann ihr aber niemand sagen.
Nach vier Jahren erst findet ein Neurologe die Ursache der mysteriösen Symptome. Nach mehreren Tests und Untersuchungen – unter anderem Magnetresonanz-Tomografie und eine Rückenmarkspunktion – stellt er die Diagnose: multiple Sklerose.
«Ich habe nur noch geweint, wollte möglichst schnell einfach nach Hause», erinnert sich Ivy Spring. Der Neurologe habe ihr dann angeboten, ihr bei der nächsten Konsultation die Krankheit genauer zu erklären. Bis dahin solle sie aber keinesfalls im Internet googeln, das mache nur Angst und verunsichere.
Das ist nicht der einzige Tiefschlag in ihrem «Schicksalsjahr», wie sie das Jahr 2013 rückblickend nennt: Kurz vor der folgenschweren Diagnose stirbt ihre Mutter mit erst 53 völlig unerwartet an einem Herzinfarkt. Und: Ivy Spring muss ihre Weiterbildung nun abbrechen, weil es einfach nicht mehr geht, mental und körperlich.
Sie fühlte sich schnell «aussortiert»
Auch am Arbeitsplatz kommt es zu Problemen: Sie fehlt häufig, muss sich zeitweilig krankschreiben lassen. Denn inzwischen hat die Therapie gegen die MS begonnen: Regelmässig muss sie sich ein Medikament spritzen, das sie jedoch nur schlecht verträgt; nach jeder Injektion plagen sie für ein paar Tage Fieber und Schüttelfrost. Ein Umstieg auf ein Mittel zum Schlucken bringt ebenfalls keine Besserung. Schliesslich kündigt ihr der Arbeitgeber – offiziell aus wirtschaftlichen Gründen.
«All diese negativen Erfahrungen in so kurzer Zeit waren sehr schlimm», sagt Ivy Spring. Fast noch erschreckender sei aber, wie schnell man «aussortiert» werde von der Arbeitswelt, aber auch von der Gesellschaft.
Seither hat sie den Wiedereinstieg ins Berufsleben nicht mehr geschafft. Sie ist aber auch realistisch genug, um zu erkennen, dass dies inzwischen wohl nicht mehr möglich ist, hat sich doch ihre MS weiter verschlechtert (die Abklärungen mit der IV sind hängig).
In ihrer Wohnung kommt sie allein nur zurecht, weil sie von Schwester und Vater unterstützt wird, die beide in ihrer Nähe leben. Zudem kommt die Spitex regelmässig vorbei, finanziert von der Schweizerischen MS-Gesellschaft; und bei Bedarf kann sie den Fahrdienst des Roten Kreuzes nutzen.
Ein Leben im «Stand-by-Modus»
Zwar würde sich die Singlefrau manchmal einen verständnisvollen Partner an ihrer Seite wünschen. Doch es sei halt schwierig, stets zu erklären, warum sie immer so müde sei und gelegentlich einen Rollator brauche. «Ich lebe ja quasi nur im Stand-by-Modus.»
Umso mehr freut sie sich heute an dem, was noch geht. Seit einiger Zeit engagiert sie sich in der Freiwilligenarbeit: In der MS-Regionalgruppe «Dreams» organisiert sie zum Beispiel für junge Betroffene aus Zürich und Umgebung barrierefreie Veranstaltungen.
Ein besonderes Anliegen ist ihr auch, dass die Sorgen und Nöte der MS-Kranken besser wahrgenommen werden – in der Bevölkerung, aber vor allem auch in der Forschung. Deshalb beteiligt sich Ivy Spring am Schweizer MS-Register, einem grossen Bürgerwissenschaftsprojekt der MS-Gesellschaft und der Universität Zürich. Sie habe ja oft genug selbst erlebt, mit wie viel Unverständnis man ihr begegnet sei – wenn sie zum Beispiel wieder einmal die bleierne Müdigkeit überfiel und sie sich spontan hinlegen musste.
Wenn sie etwas zur weiteren Erforschung ihrer Krankheit beitragen könne, nehme sie den Aufwand gern in Kauf: Studienteilnehmende wie sie beantworten regelmässig umfangreiche Fragebögen zu Themen wie durchgemachten Krankheiten, Ernährung oder Lebensstil. Ivy Spring findet das «lehrreich». Und natürlich hoffe sie insgeheim immer noch darauf, «dass es irgendwann doch ein Heilmittel gibt gegen meine Krankheit».
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