Interview über Freundschaften«Einsamkeit ist ein Signalgefühl, wie Hunger»
Ronja von Wurmb-Seibel trifft mit ihrem Buch «Zusammen» einen Nerv. Sie erklärt, warum Einsame zu rechtsradikalen Haltungen neigen und wie Freundschaften das Immunsystem stärken.
Einsamkeit ist die Pandemie des 21. Jahrhunderts, haben Experten der Weltgesundheitsorganisation festgestellt. Sie kann krank machen und fördert radikale politische Einstellungen. Doch wir müssen dieser Entwicklung nicht ohnmächtig zuschauen, sagt Ronja von Wurmb-Seibel, 38. Die deutsche Autorin hat sich für ihr neues Sachbuch «Zusammen» durch eine grosse Zahl wissenschaftlicher Studien und Fachliteratur gearbeitet.
«In soziale Bindungen zu investieren ist das Beste, was wir für unsere Gesundheit tun können», fasst sie ihre Recherchen zusammen, «und es fördert auch noch die Demokratie.» Nach ihrem Erfolgsbuch zum bewussten Nachrichtenkonsum («Wie wir die Welt sehen») trifft sie auch diesmal den Nerv der Zeit.
Wurmb-Seibel hat zwei Jahre lang als Korrespondentin in Afghanistan gelebt (daraus entstand das Buch «Ausgerechnet Kabul») und zog vor einiger Zeit mit ihrem Partner und dem kleinen Sohn von Hamburg in ein Dorf im Westen von München. Sie erzählt, wie sie selbst über ihren Schatten springt und auf andere Menschen zugeht. Wie sie sich zu Zwiegesprächen mit ihrem Mann verabredet. Und warum soziale Kontakte das Immunsystem stärken.
Wir sind so vernetzt wie nie, und doch fühlen sich so viele Menschen wie nie einsam. Haben Sie das erwartet?
Überrascht war ich, wie sehr vor allem junge Menschen davon betroffen sind. Die deutsche Studie «Extrem einsam» aus dem Jahr 2023 stellt fest: Der Hälfte der Jugendlichen mangele es manchmal oder immer an Gesellschaft, 26 Prozent hätten nicht das Gefühl, anderen Menschen nah zu sein. Der Übergang von Schule zu Ausbildung, Studium oder Beruf ist eine Phase, in der Menschen ein erhöhtes Risiko haben, sich einsam zu fühlen. Gerade für diese Zeit gibt es ja den Satz: Lerne, auf eigenen Beinen zu stehen. Ich würde lieber sagen: Lerne, dir Verbündete zu suchen! Wir müssen – und können – nicht alles alleine schaffen.
Solche Umbruchphasen im Leben waren auch früher schon eine Herausforderung, die Literatur ist voll davon …
Ja. Das Erwachsenwerden ist so eine Phase, aber auch wenn wir Eltern werden und Care-Arbeit leisten oder im hohen Alter, wenn um uns herum immer mehr lieb gewordene Menschen sterben. Das sind Zeiten, in denen wir statistisch ein höheres Risiko haben, uns einsam zu fühlen. Wenn wir das wissen, können wir uns entsprechend wappnen und ganz bewusst soziale Kontakte suchen und pflegen. Was mich wirklich überrascht hat, war, wie einig sich die Forschung darüber ist, dass soziale Medien kein Ersatz für Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind.
Die Dating-Plattformen boomen und für jedes Hobby findet man Gleichgesinnte …
Online-Angebote können ein guter Startpunkt sein, um Menschen kennenzulernen, und natürlich, um Kontakt zu halten mit denen, die weit weg leben. Aber es werden dabei bloss zwei Sinne angesprochen: sehen und hören. Erst wenn wir uns mit allen Sinnen begegnen, berühren, riechen, schmecken, zum Beispiel, wenn wir zusammen essen, schütten unsere Körper Hormone aus, die uns vor Stress schützen und unsere Gesundheit stärken. Unsere Körper sind auf Verbundenheit gepolt.
Einsamkeit, schreiben Sie, hat nicht direkt damit zu tun, wie viele Freundinnen oder Freunde jemand hat, ob er oder sie alleine, als Paar oder in einer Familie lebt. Was bedeutet Einsamkeit dann?
Wir alle kennen das Gefühl der Einsamkeit. Es entsteht, wenn wir weniger Verbundenheit und Halt spüren als wir brauchen. Es ist ein Signalgefühl, wie Hunger. Wir sollten es also nicht wegdrücken, sondern aktiv werden. Wenn wir Hunger haben, gehen wir ja auch zum Kühlschrank. Einsamkeit fordert uns auf, zu fragen: Wie kann ich mich wieder mehr mit Menschen verbinden? Wen kann ich anrufen? Mit wem kann ich mich treffen? Erst wenn sich Einsamkeit verstetigt, wird es schwierig und belastend. Das wirkt sich dann auch auf die Gesellschaft aus.
Indem sich Menschen zurückziehen oder radikalisieren?
Genau. Das ist inzwischen gut erforscht: Menschen, die sich einsam fühlen, haben nicht nur weniger Vertrauen in ihre Mitmenschen, sondern auch in politische Institutionen. Der Zuspruch zur Demokratie sinkt, die Wahrscheinlichkeit, dass sie Verschwörungserzählungen glauben, steigt ebenso wie ihre Zustimmung zu autoritären Haltungen oder sogar zu Gewalt. Das gilt besonders für Jugendliche und junge Erwachsene. Rechtsextreme nutzen das häufig ganz gezielt, zum Beispiel, in dem sie ihre Anhängerschaft als «Familie» ansprechen.
Und dann igeln sie sich in ihren Verschwörungszirkeln ein?
Je radikaler Menschen werden, desto mehr distanziert sich ihr bisheriges Umfeld von ihnen. Die Betroffenen sind noch mehr auf den Rückhalt der jeweiligen rechtsextremen Gruppierung angewiesen. Unser Gehirn reagiert auf das Gefühl, isoliert oder ausgegrenzt zu sein, mit einer Art Überlebensmodus. Dann geht es nur noch um Verteidigung. Aber je weniger Mitgefühl mit anderen jemand empfindet, je stärker er sich selbst verteidigt, umso weniger angenehm empfinden andere seine Gegenwart – und umso einsamer wird die Person. Das ist eine Spirale. Dazu kommt: Tiefe Verbundenheit, das, was Menschen nährt, entsteht nicht, wenn es nur auf Hass oder Abwertung von anderen basiert.
Der Rechtsruck in der Gesellschaft macht vielen Menschen Angst, bei manchen entsteht ein Gefühl der Ohnmacht ….
Das kenne ich von mir selbst. Und klar, die Ergebnisse der letzten Wahlen können wir nicht mehr umdrehen. Aber wenn wir überlegen, was wir in unserem direkten Umfeld verändern können, ist das eine ganze Menge. Wenn wir uns mit anderen verbinden, in Vereinen, in der Schule, im Chor oder der Nachbarschaft, bei der Hausaufgabenbetreuung oder wo auch immer, stärkt das zunächst mal uns selbst. Es kommt aber auch der Gesellschaft zugute.
Zumindest schult es die Fähigkeit, Kompromisse zu schliessen und andere Perspektiven zu akzeptieren.
Vielleicht profitiert davon die Art, wie wir als Familie miteinander sprechen, oder wie wir uns mit Arbeitskollegen verbinden und wie wohl wir uns in der Arbeit fühlen. Das sind keine kleinen Fragen. Mir gefällt dieses Bild: Eine Demokratie besteht aus vielen kleinen Demokratien. Je stabiler und demokratischer die sind, desto stärker ist das Fundament für die grosse Demokratie.
Sie verabreden sich mit Ihrem Mann regelmässig zu Zwiegesprächen, bekennen Sie im Buch …
Das hat uns eine Paartherapeutin vor Jahren mal empfohlen. Seither setzen wir uns jede Woche zusammen und sprechen im Wechsel immer zehn Minuten am Stück, eineinhalb Stunden lang. Die andere Person darf jeweils nicht unterbrechen. Obwohl wir uns seit zwölf Jahren kennen, zusammen leben und arbeiten, Eltern sind, ist es faszinierend, wie viel Neues ich jede Woche über meinen Partner erfahre. Gerade in langen Beziehungen denken wir oft, wir kennen unser Gegenüber in und auswendig. Aber Menschen ändern sich. Es ist wichtig, neugierig zu bleiben.
Menschen in der Leistungsgesellschaft definieren sich vor allem über ihre Arbeit, da herrscht oft Konkurrenz statt Teamgeist.
Viele Bereiche in unserer Gesellschaft sind stark individualisiert. Aber auch im beruflichen Kontext können wir uns fragen: Welche Person ist mir sympathisch? Mit wem möchte ich mehr teilen? Überraschend fand ich bei der Recherche: Wir profitieren am meisten von Menschen, die uns nicht ähnlich sind – weil sie anderes Wissen, andere Erfahrungen und Ideen mitbringen. Kreativität ist kein Talent, sondern die Fähigkeit, sich mit möglichst vielen verschiedenen Menschen zu verbinden. Teams sind umso erfolgreicher, je diverser sie sind, das ist messbar.
Sie haben als junge Frau eine Zeitlang in Afghanistan gelebt und eine ganz andere Kultur erlebt.
Ich war 26, als ich das erste Mal nach Kabul gereist bin. In meinem Umfeld in Deutschland waren damals alle sehr mit sich selbst und ihrem Start ins Berufsleben beschäftigt. In Kabul traf ich junge Menschen, die die gleichen Wünsche und Ziele hatten, sich aber zusätzlich enorm für ihre Gesellschaft engagierten. Natürlich auch, weil diese Hilfe dringend notwendig ist, ich will das nicht romantisieren. Ein Freund sagte damals zu mir: Die Entspannung, die ihr im Westen bei «Me-Time» empfindet, die fühlen wir, wenn wir mit unseren Liebsten zusammensitzen. Es gibt ein afghanisches Sprichwort: Mit einer Hand kann man nicht klatschen.
Viele Menschen schämen sich zuzugeben, dass sie einsam sind.
Scham ist ein starkes Gefühl. Es braucht Mut, um das zu überwinden. Aber andere Menschen können ja nicht riechen, dass wir uns einsam fühlen. Wir müssen selbst den ersten Schritt gehen, auch wenn das gerade in solchen Momenten schwer fällt. Eine meiner besten Freundinnen ist 102 Jahre alt. Sie hat mir als Tipp für Freundschaften gegeben: Du musst dich bemerkbar machen.
In manchen westlichen Ländern gibt es schon so etwas wie Social Prescribing, soziale Aktivitäten auf Rezept.
Erste Pilotprojekte gibt es auch in Deutschland. Der Gedanke dabei ist, nicht nur darauf zu schauen, welche Medikamente helfen können, sondern auch aufs soziale Umfeld und gemeinsam zu überlegen, welche Aktivitäten in den Alltag passen könnten. Aus der Forschung wissen wir, dass für unsere Gesundheit und unsere Lebenserwartung kein anderer Faktor so entscheidend ist wie die Qualität unserer Beziehungen.
Manche Ärzte scheuen sich vor solchen Gesprächen, die schnell eine Lawine lostreten können.
Ich hatte zweimal grosses Glück mit Ärzten. Der eine fragte jedes Mal zu Beginn: «Auf einer Skala von 1 bis 10: Wie hoch ist Ihr Stresslevel aktuell? Was können wir dagegen tun?» Der andere sagte: «Das Leben ist viel zu anstrengend, um sich alleine durchzukämpfen.» Das ist Jahre her, aber ich denke bis heute noch oft an den Satz.
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