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Anti-Stress-Kur für Städter«Wir haben uns von der Natur entfremdet», sagen die Zürcher Waldbader

Ein halber Tag pro Woche zwischen den Bäumen soll das Immunsystem um bis zu 50 Prozent verbessern. Aber bringt Waldbaden wirklich etwas? Ein Besuch auf dem Uetliberg.

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
17.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)
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In Kürze:
  • Waldbaden verbindet Naturerlebnis mit Entspannung, um körperliches und seelisches Wohlbefinden zu fördern.
  • Diana Soldo, eine ehemalige ETH-Wissenschaftlerin, leitet Waldbaden-Kurse im Uetlibergwald.
  • Teilnehmende lernen, Stress durch Achtsamkeitsübungen und Naturkontakt abzubauen.
  • Soldo fordert mehr Schutzflächen zur Erhaltung der Waldökosysteme.

Zaghaft zieht eine ältere Frau ihre Wanderschuhe aus und drückt den nackten Fuss in den schlammigen Herbstboden. Der Grund ist weich und gibt bei jedem Schritt ein wenig nach. «Schon speziell», sagt sie. «Das habe ich noch nie gemacht.»

Die Anweisungen waren klar: Macht euch dreckig. Und genau das tun die zwölf Personen, die sich an diesem kühlen Mittwochnachmittag im Uetlibergwald getroffen haben. Sie sind auf einer Exkursion der anderen Art: Waldbaden. 

Die, die hierhergekommen sind, möchten vor allem eins: Ruhe finden. Die Gedanken loslassen. Einfach sein.

Eine Akademikerin steigt aus

«Beim Waldbaden geht es darum, keine Leistung zu erbringen», sagt Diana Soldo, die Kursleiterin.

Soldo ist Biologin und Umweltwissenschaftlerin. 15 Jahre lang hat sie für die ETH Zürich gearbeitet. Zuletzt hat sie Klimastudien geleitet, bei denen untersucht wurde, welche Auswirkungen der fortschreitende Klimawandel auf das Wasser in der Schweiz hat. 

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
Portrait Diana Soldo.
16.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

«Da habe ich gemerkt, dass wirklich einiges auf uns zukommt», sagt Soldo ein paar Tage vor dem Kurs, ebenfalls im Wald sitzend. Kurz zusammengefasst fanden sie heraus, dass vermehrt extreme Ereignisse eintreten werden: lange Trockenphasen, heftige Regenfälle, Stürme. Alles wird sich verändern – von der Wasserverfügbarkeit über die Häufigkeit von Überschwemmungen bis hin zur Widerstandskraft unserer Kulturwälder und der Stabilität unserer Berge.

Trotz der Erkenntnisse ist nichts passiert. «Wir haben einfach weitergemacht wie bisher.» Soldo macht eine kurze Pause. «Da bin ich in eine Krise gerutscht. Mit diesem Wissen konnte ich nicht mehr so weitermachen.»

Soldo wollte aktiv werden. Also kündigte sie ihren Job und zog in eine Hütte im Wald. Das war vor 13 Jahren. Später fing sie an, selbstständig Exkursionen in Schweizer Wäldern anzubieten. Ihr Ziel: der Bevölkerung den Wald wieder näherbringen. 

Waldbaden ist eine Therapieform aus Japan

«Am ehesten funktioniert das, wenn sich die Leute einen Nutzen davon versprechen», sagt Soldo. Also entwickelte sie diverse Kurse, einer davon war das Waldbaden.

Waldbaden oder «Shinrin Yoku» ist eine anerkannte Therapieform und kommt aus Japan. Sie wurde 1982 entwickelt und wird seither vom staatlichen japanischen Gesundheitsministerium gefördert, um die Gesundheit von gestressten Stadtbewohnern zu verbessern. 

Seit 1990 wurden im asiatischen Raum die physiologischen Auswirkungen des Waldbadens in vielen Experimenten untersucht und die beruhigende Wirkung des Waldes mehrfach nachgewiesen. Es gibt sogar einen eigenen Forschungszweig: forest medicine, die Waldmedizin. 

Aber wieso wirkt der Wald so beruhigend auf uns?

Diese Frage stellt auch Diana Soldo den Kursteilnehmenden. Daraufhin kommen viele Antworten: die Gerüche, die Farben, der Sauerstoff. Und alles stimmt irgendwie.

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
17.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

«Es ist eine Mischung aus allem», sagt Soldo und verweist wieder auf diverse Studien. Zum Beispiel sei es erwiesen, dass die Farbe Grün beruhigend wirke auf unser Nervensystem. Dasselbe gelte für die Muster der Äste. Zudem sei die Qualität der Luft im Wald viel besser als in der Stadt, weil der Wald bis zu 99 Prozent der Schadstoffe herausfiltere.

Es sei aber auch evolutionsbedingt so, dass wir im Wald mehr zur Ruhe kämen, fährt sie fort. Denn über Jahrtausende war der Wald unser Zuhause. Unser Gehirn hat das nicht vergessen. «Dass wir heute in der Stadt leben, umgeben von Beton und Verkehr, von vielen Leuten, das ist für unser Hirn noch sehr neu», sagt Soldo. «Wir sind es nicht gewohnt, täglich mehrere Stunden in irgendwelche Maschinen wie Computer oder Handy zu schauen.» 

Hingegen lässt sich die beruhigende Wirkung des Waldes sogar im Gehirn beobachten: Wer im Wald weilt, aktiviert den Parasympathikus. Das ist der Teil des Nervensystems, der für Ruhe und Regeneration nach Stress verantwortlich ist.

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
17.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

Bereits nach zehn Minuten im Wald sinkt das Stresshormon Cortisol merklich. «Einen halben Tag pro Woche im Wald verweilen, kann das Immunsystem um bis zu 50 Prozent stärken», sagt Soldo. Dies haben Wissenschaftler der Universität Tokio in einer Studie herausgefunden.

Bevor dieser Effekt eintrifft, müssen die Teilnehmenden jedoch lernen, wie sie das Gedankenkarussell im Kopf verlassen. Diana Soldo hat einen Tipp: die Sinne aktivieren. Tief atmen. Den Wald anfassen. An Bäumen riechen. Oder eben einfach mal die Schuhe ausziehen und barfuss laufen.

Das muss sie dem 82-jährigen André Madörin nicht zweimal sagen.

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
Bild von André. Erlaubnis bekommen zum fotografiert werden.
16.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

Noch während Soldo die Vorzüge des Barfusslaufens darlegt, zieht der Rentner seine Wanderschuhe aus und spaziert auf dem Herbstlaub herum. Zögerlich machen es ihm die meisten Teilnehmenden nach.

Madörin, ein ehemaliger Informatiker, ist extra aus Zug angereist. Er hat bereits in Berlin Waldbaden praktiziert und wollte wissen, wie das in der Schweiz läuft. «Zu Hause bin ich meistens barfuss unterwegs», erklärt er. «Das ist für mich kein Problem.»

Bäume kommunizieren miteinander

«Wir nehmen die Erde als Dreck wahr, das ist einer der Gründe, warum wir uns von ihr entfremdet haben», erklärt Diana Soldo. Was sie damit meint: Die meisten sehen den Wald heute hauptsächlich als Ressource. Als Holzlieferant, als Joggingroute, als Wanderweg. «Wir bewirtschaften und formen den Wald nach unseren Bedürfnissen. Dadurch bringen wir das ganze Ökosystem aus dem Gleichgewicht.»

Dabei bestand die Schweiz einst zu 80 Prozent aus Urwald. Doch seit die Menschen sesshaft geworden sind, fingen sie an, den Wald zu roden, zu verdrängen. Heute gibt es bei uns kaum mehr wilden, unkultivierten Wald.

Noch knapp ein Drittel der Schweizer Fläche ist Wald, wobei davon weniger als fünf Prozent Naturreservate sind, also Natur, die komplett unbewirtschaftet ist. Das ist wenig im Vergleich zu anderen Ländern. «Die Schweiz ist in Europa fast das Schlusslicht, wenn es darum geht, Land unter Schutz zu stellen», sagt Soldo.

Was das konkret bedeutet, werden wir erst in einigen Jahrzehnten erleben, aber schon jetzt kann man sagen: Je intensiver der Wald genutzt wird, desto weniger alte Bäume und desto weniger Totholz gibt es. Totholz ist aber ein wichtiger Lebensraum für viele Arten. Umweltschutzorganisationen wie der WWF verweisen in ihren Berichten seit Jahren auf diese Entwicklung.

Handkehrum speichern alte Bäume auch Wissen und geben es an ihre Nachkommen weiter. Diese sind dadurch besser gewappnet für extreme Wetterereignisse, die mit dem fortschreitenden Klimawandel weiter zunehmen werden. 

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
Bild von André. Erlaubnis bekommen zum fotografiert werden.
16.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

«Man hat kürzlich herausgefunden, dass Bäume miteinander kommunizieren», sagt Soldo. Durch ein gigantisches Netzwerk, das sogenannte Wood Wide Web, können Bäume einander vor Fressfeinden oder anderen Gefahren warnen und Nährstoffe austauschen. 

«Doch weil Holz als erneuerbare Ressource gilt, wird im Wald stark geholzt», sagt Soldo. «Dadurch geht wichtiges Wissen verloren.» Machen wir so weiter, riskieren wir gemäss Soldo irgendwann den Kollaps des Ökosystems.

Diese Entwicklung könnte verhindert werden, indem wir als Gesellschaft mehr Wildnis zulassen würden, findet Soldo. Wie viele Ökologen ist sie der Meinung, dass man einen Grossteil der Waldfläche unter Schutz stellen und nicht mehr bewirtschaften sollte. Damit sich die Ökosysteme regenerieren können. «Die Wissenschaft spricht von 30 bis 50 Prozent, die sich selbst überlassen werden sollten», sagt Soldo. 

Ruhe finden ist schwierig

Während Soldos Waldbadenkurs geht es weniger darum, was wir als Gesellschaft nicht machen sollten, sondern darum, was Einzelpersonen machen können.

Soldo macht eine Achtsamkeitsübung: Jeder und jede sucht sich ein Plätzchen im Wald, setzt sich auf den Boden und lauscht der Stille.

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
17.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

Plötzlich fällt auf, wie laut die Umgebung ist: der Zug, das Gezwitscher der Vögel. 

Manche tun sich sichtlich schwer damit, Ruhe zu finden. «Jedes Geräusch hat mich gestört», sagt eine Teilnehmerin, als Soldo nach der Übung fragt, wie es den Teilnehmenden ging.

Andere konnten überraschend schnell abschalten. Zum Beispiel die 66-jährige Maja Vollenweider.

Reportage aus dem Wald.
Wir haben den Bezug zur Natur verloren. Diana Soldo hilft dabei, diesen wieder zu finden. Die Akademikerin hat in namhaften Postionen bei der ETH gearbeitet, vor 15 Jahren ist sie ausgestiegen und lebt seither in einer Hütte im Wald. Sie bietet Kurse an, die uns beibringen sollen, die Natur wieder besser kennenzulernen.
Bild von Maja Vollenweider. Erlaubnis bekommen zum fotografiert werden.
16.10.2024
(RAHEL ZUBER/TAGES-ANZEIGER)

Die pensionierte Lehrerin leidet seit ihrer Geburt an ADHS, dieses wurde jedoch erst kürzlich diagnostiziert. «Heute war einer der wenigen Momente, in denen ich wirklich zur Ruhe gekommen bin», sagt die Stadtzürcherin.

Kurz vor fünf Uhr nachmittags ist die Exkursion zu Ende und die Gruppe geht wieder zum Bahnhof.

Maja Vollenweider und André Madörin sind zufrieden. Sie werden versuchen, Waldbaden in ihren Alltag zu integrieren, sagen beide. Auch wenn es sich für sie noch etwas komisch anfühle, so ziellos durch den Wald zu laufen. 

Anmerkung der Redaktion: Die Exkursion wurde in Zusammenarbeit mit der Volkshochschule Zürich durchgeführt.