Kaum berührte NaturWo die Urwälder der Schweiz liegen
Über 800 Naturwaldreservate entwickeln sich heute in der Schweiz weitgehend ohne menschliche Eingriffe. Hier eine kleine Auswahl der schönsten «Urwälder».

Wer von Urwald spricht, denkt zuallererst an Wälder irgendwo in den Tropen mit üppiger Vegetation, Affen und anderen Wildtieren. Definiert wird ein Urwald als unberührtes Waldgebiet, das über viele tausend Jahre ohne Einfluss der Menschen gewachsen ist. Dass es solche kleinen Restbestände auch in der Schweiz gibt, ist vielen gar nicht bewusst.
Zudem gibt es eine Grosszahl an Wäldern, die schon seit Jahrzehnten nicht mehr bewirtschaftet werden und sich als Naturwaldreservate weitgehend ohne menschliche Eingriffe entwickeln können – und so vielleicht in ferner Zeit wieder zu Urwäldern werden.
Typisch für solche Gebiete ist totes Holz, das entsteht, wenn Bäume durch Naturereignisse wie Stürme oder durch Schädlinge sterben. Wer also durch solche Wälder streift, sollte sich sorgsam verhalten, auf den Wegen bleiben und sich an die jeweiligen Vorschriften halten.
Bödmerenwald, Muotatal (SZ)

Einfach bekommt man einen der urtümlichsten Wälder der Alpen nicht zu Gesicht. Ganz zuhinterst im Muotatal liegt der 550 Hektaren grosse Bödmerenwald, der seit 1984 ein Waldreservat ist. Am besten nimmt man die Wanderung von der Pragelpassstrasse in Angriff. Im Bödmerenwald angekommen, glaubt man fast, sich in einem Märchenwald zu befinden. Fichten stehen in lockeren Gruppen, dazwischen wachsen Vogelbeeren. Auf den Felsbändern und Kuppen ragen Bergföhren empor. In den Mulden und aus Felsspalten spriessen weissrindige Birken heraus.
Dank dem hohen Totholzanteil wächst hier eine grosse Pilzvielfalt und Flechten, wie zum Beispiel die sehr seltene Engelshaarflechte. Die vielen Karren und Löcher im kalkigen Boden sind einer der Gründe, weshalb der Bödmerenwald weitgehend unberührt blieb. Zum Glück, denn so ist, nachdem sich am Ende der letzten Eiszeit die Gletscher zurückzogen haben, über die Jahrtausende ein wahres Juwel entstanden.
Fichtenurwald Scatlè, Brigels (GR)

Wer von Brigels dem Flüsschen Flem entlang in Richtung Val Frisal – für viele das schönste Hochtal der Alpen – hinaufwandert, kommt an einem besonders eindrücklichen Waldgebiet vorbei. Hier befindet sich der höchstgelegene Fichtenurwald Europas. Das seit 1909 bestehende «Reservat d’uaul primitiv» liegt bei Scatlè, was so viel bedeutet wie «eingeschachtelt».
Das ist der 150 bis 300 Meter breite Waldstreifen auch tatsächlich, nämlich von steilen Felsbändern, Blocktrümmerfeldern und Lawinenzügen. Kein Wunder, konnte sich hier die Natur unbehelligt entwickeln. Und so findet man im rund 5,5 Hektaren umfassenden Reservat Fichtenbäume, die bis 600 Jahre alt und über 30 Meter hoch sind.
Bergurwald, Derborence (VS)

In Derborence weit oberhalb von Sion befindet sich einer der letzten Bergurwälder der Schweiz. Manche Tannen sollen seit sechs Jahrhunderten dort stehen. Sie haben sogar den grossen Bergsturz anno 1749 überlebt, der zur Entstehung des Lac de Derborence führte. Das Gebiet wurde 1961 in ein Naturschutzgebiet umgewandelt und ist im Besitz von Pro Natura.
Es gibt verschiedene Routen, um in das abgelegene Tal zu gelangen. Entweder wandert man von Solalex nach Anzeindaz bis zur Waldgrenze, dann über einen Bergpfad bis zum Pas de Cheville und weiter bis zu den geheimnisvollen Wäldern von Derborence. Oder man fährt von Sion mit dem Postauto nach Derborence und wandert nordöstlich des Sees zum Bergurwald und dem alpinen Auengebiet, wo auch Steinadler und Bartgeier eine Heimat gefunden haben.
Alte Buchenwälder, Valle di Lodano (TI)

Ein Urwald ist es zwar nicht, was man im Valle di Lodano vorfindet. Aber die alten, dicken Buchenwälder sind dennoch sehr bemerkenswert. Und zwar so sehr, dass sie soeben auf die Liste als UNESCO-Weltnaturerbe aufgenommen wurden (wie übrigens gleichzeitig auch der Buchenwald auf dem Solothurner Bettlachstock). Denn sie verbreiten sich seit der letzten Vergletscherung aussergewöhnlich ökologisch.
Von Lodano im Maggiatal aus gibt es verschiedene Wanderungen von unterschiedlicher Länge hinauf ins Valle di Lodano. Anfangs geht es noch durch Kastanienwälder, bis man ins Naturreservat gelangt und dort auf die prächtigen Buchen trifft. Die schönsten und beeindruckendsten Exemplare sollen auf dem Bergweg Richtung Canaa stehen.
Sihlwald, Zürich (ZH)

Dass es nur einen Katzensprung von Zürich entfernt ein urwaldähnliches Gebiet gibt, überrascht doch ziemlich. Im Sihlwald entwickelt sich seit über 30 Jahren ein Wald nach seinen eigenen Gesetzmässigkeiten, was so viel bedeutet, dass dort der Mensch keinerlei Eingriffe vornimmt. Im rund 1100 Hektaren grossen Gebiet mitten im urbanen Raum zwischen Zürich, Zug und Luzern wachsen vor allem Buchen, wie es ursprünglich auf rund 80 Prozent der Fläche Mitteleuropas der Fall war.
Wer durch den Sihlwald wandert oder mit dem Velo unterwegs ist, trifft auf bis zu 250 Jahre alte eindrückliche Baumriesen. Mittendrin befindet sich der Wildnispark Langenberg, wo sich Luchs, Wolf und Wisent fast wie in freier Wildbahn bewegen können. Auch sind zwei Erlebnispfade speziell für Kinder angelegt worden.
Risoud-Wald, Vallée de Joux (VD)

Hier kann es gut passieren, dass man vor lauter Bäumen den Wald nicht mehr sieht. Der Risoud-Wald zieht sich ungefähr 15 Kilometer über die gesamte Westseite des Vallée de Joux und bildet die natürliche Grenze zu Frankreich. Mit seinen 2200 Hektaren gilt er als die grösste Waldkette Europas. Dank einem weiten Netz an Fusswegen kann man in den mystischen Wald eintauchen – und auch wieder heraus finden.
Während des 2. Weltkrieges sollen hier nicht nur Nachrichten heimlich übermittelt worden sein, sondern auch Flüchtlinge nutzten das Gebiet, um vor dem Krieg in die sichere Schweiz zu fliehen. Noch aus anderem Grund ist der Risoud-Wald so besonders: Die Fichten sollen von so hoher Qualität sein, dass sie bei Saiteninstrumentenbauern aus der ganzen Welt gefragt sind.
Val Cama, Val Leggia, Misox (GR)

Man braucht schon etwas Puste, damit man es von Ogreda im südlichen Misox ganz hinauf ins Valle Cama bis zum Lago di Cama schafft. Dort trifft man auf eines der grössten Schweizer Waldreservate ausserhalb des Nationalparks. Auf dem 15 Quadratkilometer grossen Gebiet, das auch das Val Leggia und seit 2016 das Val Grono mit einbezieht, existieren über zwei Dutzend verschiedene Waldtypen, wie etwa Hopfenbuch-, Eichen-, oder Bergföhrenwälder. Seit 2007 darf auf diesem Gebiet kein Holz mehr geschlagen werden. Auf Infotafeln erfährt man, wie sich der natürliche Wald den unterschiedlichen Kräften der Natur anpasst und wieso er eine so grosse Vielfalt aufweist.
Hittuwald, Simplon (VS)

Am Walliser Chastelberg oberhalb von Simplon Dorf wachsen die Lärchen zu Hunderten. Manche haben nachweislich ein Alter von 700 bis 850 Jahren – eine halbe Ewigkeit. Besonders eindrücklich ist eine Wanderung im Spätherbst, wenn sich die Lärchennadeln gelb verfärbt haben, allenfalls auf den Bergspitzen schon Schnee liegt und sich der Himmel in strahlendem Blau zeigt.
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