Mord an KrankenversicherungschefMögliche Fluchtroute des Täters bekannt
Auch fünf Tage nach der Tat ist unklar, wer Brian Thompson in Manhattan erschossen hat. Wie ist das möglich?
- Trotz umfangreicher Ermittlungen bleibt die Identität des Täters bislang unbekannt.
- Er floh vermutlich mit einem Bus aus New York.
- Die Polizei hat neue Fotos veröffentlicht, die den Täter in einem Taxi zeigen.
- Eine Profilerin geht davon aus, dass der Mörder kein Profi ist.
Nach den tödlichen Schüssen auf einen Krankenversicherungschef in Manhattan gehen die Ermittler davon aus, dass der Täter die Stadt verlassen hat. Der Schütze sei vermutlich mit einem Bus aus New York geflohen. Fünf Tage nach der Tat ist der Name des Angreifers immer noch unbekannt. Auch ein Motiv für die Schüsse auf den Vorstandsvorsitzenden des Krankenversicherers United Healthcare, Brian Thompson, fanden die Ermittler nicht.
Dafür haben sie nun neue Erkenntnisse zur möglichen Fluchtroute. Nachdem der Täter sich erst zu Fuss und dann mit einem Leihbike vom Tatort entfernt hatte, soll er rund 15 Minuten nach dem Mord in der Upper West Side ein Taxi bestiegen haben. Davon zeugen zwei Fotos, welche die Polizei am Wochenende veröffentlichte. Darauf ist der Täter mit einer Gesichtsmaske, einem Kapuzenpulli und einer schwarzen Jacke zu sehen.
Vom Taxi liess er sich zu einem Busbahnhof in der Nähe der George-Washington-Brücke fahren. Von dort werden Fahrten nach New Jersey sowie Philadelphia, Boston und in die Hauptstadt Washington angeboten. Aufnahmen von Überwachungskameras zeigten den Mann beim Betreten des Busbahnhofs, jedoch gebe es keine Hinweise, dass er ihn zu Fuss wieder verlassen habe, sagte der leitende Ermittler Joseph Kenny. Daher sei davon auszugehen, dass der Gesuchte sich nicht mehr in der Stadt aufhalte.
Die Polizei hat zudem einen Rucksack im Central Park sichergestellt, den der Täter während der Tat trug und wohl auf seiner Velofahrt weggeschmissen hat. Laut einer Quelle von CNN sollen sich darin eine Tommy-Hilfiger-Jacke und Monopoly-Spielgeld befunden haben. Die amerikanische Bundespolizei FBI setzte eine Belohnung von 50’000 Dollar für Hinweise aus, die zur Verhaftung des Schützen führen.
Profilerin: Kein erfahrener Killer
Doch wie kann es sein, dass die Identität des Täters trotz über 200 Bildern von Überwachungskameras nach wie vor nicht bekannt ist? Die ehemalige FBI-Profilerin Mary Ellen O’Toole geht davon aus, dass das Rätsel bald gelöst sein wird. Es werde nicht mehr lange dauern, bis die Polizei wisse, wen sie suche, sagte O’Toole gegenüber CNN. Bei einer solch grossen Fahndungsaktion werde sie an identifizierende Informationen gelangen. «Eine einzelne Person kann einer solchen Untersuchung nicht standhalten, egal wie unangreifbar sie sich fühlt.» Die Profilerin geht davon aus, dass es sich beim Attentäter eher um einen Amateur und nicht um einen erfahrenen Killer handelt. Das Hinterlassen von Patronenhülsen und Monopoly-Spielgeld passe nicht zu einem Mörder, der sich «in die Vergessenheit zurückziehen» wolle, so O’Toole.
Einer, der weiss, was es braucht, um unterzutauchen, ist Aktivist Peter Young. Er entzog sich mehr als sieben Jahre lang einer Festnahme durch das FBI nachdem er Tiere aus Pelzfarmen befreit hatte. Laut ihm ist es entscheidend, die Anzahl der Handlungen vor und nach einer Straftat zu minimieren, um nicht gefasst zu werden. «Es klingt, als hätte sich diese Person nicht daran gehalten», sagt Young. So soll der Schütze Minuten vor der Tat in einem Starbucks eingekauft haben – für Young ein «unnötiges Risiko».
Versicherungschef Thompson wurde am Mittwochmorgen niedergeschossen, als er zu Fuss zur jährlichen Investorenkonferenz des Unternehmens in einem Hotel in Manhattan unterwegs war. Auf den Patronenhülsen der Tatwaffe fand die Polizei die Worte «deny», «defend» and «depose», wie der leitende Ermittler Kenny bestätigte. Die Begriffe bedeuten sinngemäss «verweigern, leugnen», «verteidigen» und «absetzen, stürzen» – und dürften sich auf die Methoden beziehen, derer sich Versicherungsunternehmen bedienen, um die Zahlung von Ansprüchen zu vermeiden. Derzeit werde geprüft, ob es sich bei dem Täter um einen verärgerten Mitarbeiter von United Healthcare oder Kunden des Versicherers gehandelt haben könnte, sagte Kenny.
Die These von «Dr. Glaucomflecken»
Auch im Internet dauerte es nicht lange, bis die Frage auftauchte, ob die Schüsse mit verweigerten Versicherungsleistungen zusammenhängen. Dass solche Kommentare vielfach gepostet worden seien, empfinde er als sehr aufschlussreich, sagt Will Flanary. Der Augenarzt und Komiker aus Portland, der unter dem Künstlernamen Dr. Glaucomflecken auftritt, hat mit seinen Satire-Postings zu Medizinthemen eine grosse Fangemeinde im Netz. Inhalte seiner Sketche sind immer wieder auch Entscheidungen grosser Krankenversicherer.
In den Reaktionen nach den Schüssen auf Thompson zeige sich so gut wie kein Mitgefühl, sagt Flanary. Was man daraus ablesen sollte, sei aber nicht, dass Menschen einen Mord guthiessen. Die Botschaft laute vielmehr: «Schauen Sie sich an, wie viel Wut die Menschen auf dieses System haben, das die Menschen benachteiligt, und tun Sie etwas, um das zu ändern.»
Ärger und Verzweiflung über das US-Gesundheitswesen sind nicht neu, aber die tödlichen Schüsse auf den Versicherungschef lassen das Thema hochkochen. «Das Geschäftsmodell der Versicherungen ist, nicht zu zahlen», sagt Tim Anderson aus Ohio. Seine Frau Mary starb 2022 am Lou-Gehrig-Syndrom, der chronisch-degenerativen Nervensystemerkrankung ALS. United Healthcare habe es abgelehnt, Kosten für Maschinen zu übernehmen, die Mary beim Atmen oder Sprechen geholfen hätten, erklärt der 67-Jährige. Die Familie sei auf Spenden einer örtlichen ALS-Gruppe angewiesen gewesen.
Als gläubiger Christ betrauere er Thompsons Tod und fühle mit der Familie, kommentiert Hans Maristela aus Kalifornien die Facebook-Debatte. Als Pfleger verstehe er aber ebenso die hochkochenden Emotionen der Versicherten. Auch bei seinen Patientinnen und Patienten gebe es grosse Frustration über die Krankenversicherungen, sagt der 54-Jährige. «Und wenn man dann weiss, dass der Chef dieses Unternehmens, an das man viel Geld zahlt, zehn Millionen Dollar im Jahr bekommt, hat man wenig Sympathie für den Mann.»
Dass nun so viele Menschen ihre Kommentare ins Netz stellen und ihre eigenen, oft leidvollen Versicherungserfahrungen teilen, kommt für die Forscherin Michael Anne Kyle von der University of Pennsylvania nicht überraschend. «Die Menschen müssen oft allein damit klarkommen», sagt sie. «Und wenn man sieht, dass jemand anderes darüber spricht, kann das einen dazu bringen, sich an der Diskussion zu beteiligen.»
Sie habe über Jahre hinweg beobachten können, wie sich Frustration über das System in den USA aufgebaut habe. Inmitten steigender Kosten nutzten die Versicherer immer mehr Kontrollmechanismen, wie etwa Vorabprüfungen für medizinische Versorgung oder genau definierte Ärztenetzwerke. «Die Patienten geben bereits eine Menge Geld für die Gesundheitsversorgung aus, und dann haben sie auch noch Probleme mit der Leistung», erklärt Kyle.
DPA/nlu
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