Massenexodus aus VenezuelaMillionen Flüchtlinge – und niemand schaut hin
Sechs Millionen Venezolaner haben die letzten Jahre ihre Heimat verlassen, um dem politischen und wirtschaftlichen Chaos zu entkommen und zu überleben. So auch die Familie von Jesús Rivera.
Es ist nicht so, dass das Leben von Jesús Rivera immer schlecht gewesen wäre in seiner Heimat. 32 Jahre alt ist er, geboren in Socopó, einem Städtchen im Nordwesten Venezuelas, eingeklemmt zwischen schneebedeckten Bergen und tropischem Urwald. Rivera arbeitete dort als Lackierer und Mechaniker, eigentlich kein schlechter Job, sagt er: «Vor allem Roller und Motorräder gab es in Socopó mehr als genug.» Dennoch reichte bereits vor Corona der Lohn nicht immer für drei Mahlzeiten am Tag für sich und seine Familie.
Seit Jahren schon steckt Venezuela in einer fast allumfassenden Krise. Die Regierung in Caracas klammert sich mit allen Mitteln an die Macht, Menschenrechtsorganisationen beklagen aussergerichtliche Hinrichtungen und die Verfolgung von Oppositionellen. Gleichzeitig versinkt die Wirtschaft im Chaos: Noch vor wenigen Jahrzehnten war Venezuela eine der wohlhabendsten Nationen ganz Südamerikas, vor allem dank seiner riesigen Ölreserven. Nun aber haben Korruption und Misswirtschaft zusammen mit US-Sanktionen dazu geführt, dass die Fördermenge so niedrig ist wie seit den 1940er-Jahren nicht mehr. Die Inflationsrate in Venezuela ist eine der höchsten der Welt, selbst Grundnahrungsmittel sind knapp, mal fällt der Strom aus, dann wieder kommt kein Wasser aus der Leitung.
Rivera lebt heute in Cúcuta. Das ist eine Kleinstadt in Kolumbien direkt an der Grenze zu Venezuela. Er und seine Familie bekommen hier Hilfe von den Jesuiten und der Caritas. Von diesen stammt der Computer, über den Rivera telefoniert, sie kümmern sich um die Flüchtlinge, die hier aus dem Nachbarland ankommen, Tag für Tag, seit Jahren schon. Seit 2015 haben geschätzt sechs Millionen Venezolaner so wie Rivera ihre Heimat verlassen. Es ist die grösste Flucht- und Migrationsbewegung in der Geschichte Südamerikas, ein Massenexodus, der allerdings weitgehend abseits der Weltöffentlichkeit stattfindet. Die allermeisten Flüchtlinge aus dem sozialistischen Krisenland zieht es gen Süden, in die spanisch- oder portugiesischsprachigen Länder der Region, nach Chile, Argentinien, Brasilien oder Bolivien, Peru, Ecuador und ganz besonders nach Kolumbien.
Nirgendwo leben heute mehr venezolanische Flüchtlinge, mindestens 1,7 Millionen Menschen. Cúcuta hat sich zu einem Zentrum für venezolanische Flüchtlinge entwickelt. Die kleine Stadt liegt fast in der Mitte zwischen Bogotá und Caracas. Rivera ist hier mit seiner Frau und seinen zwei Töchtern in einem kleinen Zimmer untergekommen. «Wir haben kaum Platz», sagt er – und fügt dann schulterzuckend hinzu: «Aber wir haben ja auch kaum Sachen.» Eine Matratze, einen Kühlschrank, mehr nicht. Trotzdem: «Verglichen mit Venezuela ist das hier das Paradies.»
Einst flohen Kolumbianer vor dem bewaffneten Konflikt in ihrer Heimat nach Venezuela, nun ist der Flüchtlingsstrom umgekehrt.
War die Situation schon vor Covid-19 angespannt in Venezuela, so wurde sie mit der Pandemie unerträglich. Strikter Lockdown, Schulen zu, Geschäfte geschlossen. Er habe das Haus kaum verlassen, sagt Rivera. Monatelang hatte er keine Arbeit und damit auch kein Einkommen. «In den Läden waren die Regale ohnehin leer», sagt Rivera. Und als seine jüngere Tochter krank wurde, musste er auch noch die Einweghandschuhe für den Arzt kaufen.
Kolumbien kannte Rivera schon zuvor, von Familienbesuchen und Ferien, damals, als die Zeiten noch besser waren. Das wenige, was sie in Socopó besassen, verkauften sie, dann machten sie sich auf den Weg, mit dem Auto, dem Bus, zu Fuss. Ein Jahr ist es nun her, dass sie hier angekommen sind, in Cúcuta, in ihrem neuen Leben. Einfach, sagt Rivera, sei das nicht. «Hier muss man hart arbeiten. Aber wenigstens kann man hier dann von dieser Arbeit leben», sagt er.
Kolumbien hat die venezolanischen Flüchtlinge lange freundlich aufgenommen. Die beiden Länder verbindet eine lange Geschichte, einst flohen Kolumbianer vor dem bewaffneten Konflikt in ihrer Heimat nach Venezuela, nun ist der Flüchtlingsstrom eben umgekehrt. Man spricht dieselbe Sprache, sieht dieselben Serien. Dazu waren es zunächst auch vor allem wohlhabendere und gut ausgebildete Venezolaner, die ihre Heimat verliessen, Ärzte, Ingenieure, Programmierer.
Seit ein paar Jahren und mit der Zuspitzung der Krise kommen zunehmend aber auch ärmere Menschen, teilweise ohne Schulabschluss. «Oft sind diese Flüchtlinge gezwungen, irreguläre Jobs anzunehmen», sagt Christina Grawunder von Caritas in Bogotá. «Viele haben kein finanzielles Polster. Die Situation dieser Menschen war schon vor Corona prekär, die Pandemie hat all diese Probleme verschärft.»
«Nur die ganz einfachen Dinge des Lebens»
Covid-19 hat Südamerika schwer getroffen, prozentual zur Bevölkerung starben kaum irgendwo auf der Welt so viele Menschen an dem Erreger wie hier. Strikte Lockdowns haben dazu Millionen in die Armut gestürzt. «Viele venezolanische Flüchtlinge haben ihre Arbeit und ihr Einkommen verloren», sagt Grawunder. «Dazu verschlechterte sich teilweise auch die Stimmung gegenüber den Migranten, es kam zu Übergriffen und Diskriminierung.» Den Flüchtlingsstrom aus Venezuela wird all das nicht stoppen. «Die Lage in Venezuela wird sich auf absehbare Zeit nicht verbessern», erklärt Grawunder. 2022 könnte die Zahl der Flüchtlinge auf mehr als sieben Millionen steigen, fürchten Beobachter.
Jesús Rivera jedenfalls will sich in Kolumbien eine Zukunft aufbauen, für sich und seine Familie. Wie er sich die vorstellt? Ein fester Job, ein Platz in der Schule für seine Töchter und vielleicht irgendwann eine Wohnung. «Nichts Ausgefallenes», sagt er, «nur die ganz einfachen Dinge des Lebens.» In seiner Heimat Venezuela aber waren selbst die unerreichbar.
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