Mildes WetterWas es mit dem «Rekordherbst» auf sich hat
Gut gelaunte Leute, kopulierende Spatzen und Bäume, die zweimal blühen – alles Folgen des Prachtwetters. Welche Rolle der Klimawandel dabei spielt.
Ein historischer Herbst
Im T-Shirt spazieren gehen, im See schwimmen oder auf dem Balkon grillieren, bis die Gasflasche leer ist – das passte bisher nicht zum Herbst. Doch dieses Jahr ist anders. Statt Nässe und Nebel herrschen Sonnenschein und milde Temperaturen. «Der Herbst ist zwar noch nicht vorbei, es kann noch viel passieren. Aber allein die zahlreichen Wärmerekorde vom September und diejenigen von Anfang Oktober an vielen Schweizer Messstationen zeigen, dass der Start in diese Jahreszeit bisher hinsichtlich Temperaturen sehr aussergewöhnlich ist», sagt SRF-Meteorologe Thomas Bucheli. «Der vergangene September war mit Abstand der wärmste September seit Messbeginn. Aber auch weltweit betrachtet war dieser Monat mit einem Überschuss von 0,93 Grad gegenüber der Norm der wärmste September seit Beginn der Aufzeichnung.» Grund sei unter anderem die globale Erwärmung, die schon mal generell für ein höheres Temperaturniveau sorge. Zudem habe die warme El-Niño-Zirkulation zur Rekordwärme im September beigetragen. Das alles trieb die Nullgradgrenze in den Schweizer Bergen nach oben: Am 4. September stieg sie auf 5253 Meter – der zweithöchste je gemessene Wert. Und das nur 14 Tage nach der absoluten Rekordhöhe von 5298 Metern am 21. August. Rekordhohe Herbsttemperaturen gab es gleich im Multipack. Der nationale Wetterdienst Meteo Schweiz verzeichnete an 27 Messstationen neue Höchstwerte im Oktober, im September an 14 Stationen. Die höchste Oktobertemperatur wurde dieses Jahr in Basel-Binningen mit 28 Grad gemessen, die zweithöchste am gleichen Tag in Fahy im Kanton Jura mit 27,6 Grad. Auch an anderen Orten in der Schweiz stieg das Quecksilber im Oktober auf 27 Grad und mehr.
Ist das jetzt der Klimawandel?
Die Frage geht an ETH-Klimaforscher Reto Knutti. «Wir erleben derzeit eine Serie von sehr stabilen Hochdrucklagen, die zu hohen Temperaturen und kaum Niederschlag führen. Das sind sogenannte blockierte Hochdrucklagen, zu denen es auch im Sommer ab und zu kommt. Sie haben in den letzten Jahren zugenommen», sagt Knutti. «Es gibt Theorien, dass sich diese blockierten Hochdrucklagen mit dem Klimawandel häufen. Das ist aber eher spekulativ. Die Häufung kann auch zu einem grossen Teil zufällig sein.»
Der Anstieg der Durchschnittstemperaturen, der global seit Jahrzehnten zu beobachten sei, habe dagegen mit dem Klimawandel zu tun. 2023 werde wahrscheinlich das bisher wärmste Jahr. Das Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 Grad zu beschränken, würden wir kurzfristig möglicherweise nicht erreichen können, erklärt Knutti, wir lägen wohl drüber. «Aber das bedeutet nicht, dass alles schlimmer wird oder verloren ist, sondern einfach, dass wir sehr nahe an den Schwellen sind, die wir in der Klimaforschung als gefährlich betrachten. Und dass wesentlich grössere Anstrengungen zum Klimaschutz nötig sind.»
Prachtwetter sorgt für bäumige Stimmung
Für viele Menschen ist das seit Wochen herrschende milde, sonnige Wetter ein Lebenselixier. «Dieser Herbst ist Doping für die Laune», sagt Christoph Negri, Leiter des Instituts für Angewandte Psychologe an der Fachhochschule ZHAW. «Wir sind mehr draussen, bewegen uns mehr, können joggen und Velofahren gehen, ohne uns wie im Sommer durch die Hitze zu quälen. Auch die Farben und das milde Herbstlicht tun uns gut.» Viele Leute würden das jetzt einfach geniessen. Aber Negri kennt auch die Kehrseite: Es gibt Menschen, die sich Sorgen machen, ob dieses Wetter eigentlich noch normal ist. Und je länger das schöne, warme Wetter anhält, desto grösser wird die Erwartungshaltung, dass es so bleibt. Wenn das Wetter dann kippt, sagt Negri, «werden Kälte und Nässe zu einem umso grösseren Stimmungskiller».
Freudige Kühe, glückliche Bauern
Noch aber scheint die Sonnen-Pfunzel täglich stundenlang vom wolkenlosen Himmel herunter, als gebe es kein Morgen. Das herrschende Wetter freut die Landwirte. «Es könnte nicht besser laufen», sagt Markus Ritter, Präsident des Schweizer Bauernverbands. «Die Nächte sind länger und kühler als im Sommer, nachts bildet sich viel Tau, also Feuchtigkeit für die Pflanzen. Tagsüber ist es dann warm und sonnig, aber weniger heiss als im Sommer. Dieser Herbst ist ein Geschenk.» Auch die Kühe hätten ihre helle Freude an diesem Wetter, könnten jeden Tag auf die Weide, es sei sonnig und warm, aber nicht mehr glühend. Für die Kühe, sagt Ritter, «ist das wunderbar».
Gefrässige Bären und Schichtwechsel bei den Pinguinen
Fidel geht es auch im Zoo Zürich zu und her. Der milde Herbst sei kein Problem für die Tiere. Pinguine? Da gibt es ohnehin ein durchgetaktetes Regime: Die Königspinguine, die es gern kalt haben, sind drinnen im Gebäude, wo die Temperaturen auf 6 bis 12 Grad herunterklimatisiert werden. Die Pinguine, die mit höheren Temperaturen auskommen – etwa die Humboldtpinguine, sind derzeit noch in der Aussenanlage. Wenn es kalt wird, gibt es einen Schichtwechsel: Königspinguine nach draussen, die anderen nach drinnen, wo die Klimaanlage abgestellt wird.
Auch die Bären, die eine Winterruhe einlegen, werden von diesem milden Herbst nicht gestört. So lange sie Futter finden, fressen sie einfach weiter, bis sie sich genügend Fettreserven für die nahrungslose Zeit im Winter angefressen haben. Erst wenn es einschneit, gehen sie in die Winterruhe. «Sobald 30 bis 40 Zentimeter Schnee liegt, wird die Futtersuche zu aufwendig und die Bären beschliessen, Energie zu sparen und zu ruhen», sagt Hans Schmid vom Bärenland Arosa.
Die warmen Herbsttage, sagt Nadja Brodmann vom Zürcher Tierschutz, verlängerten generell die Vorbereitungszeit auf den Winter: «Eine gute Futterbasis bis spät im Jahr ermöglicht auch vielen Tierarten eine längere Reproduktionszeit. Das heisst: Es sind mehr Würfe respektive Bruten möglich als normal, etwa bei Wildschweinen und Mäusen, Tauben und Spatzen.»
Die Bäume blühen – schon wieder!
Das Wachstum der Bäume ist von der Tageslänge abhängig sowie vom Wasser- und Wärmeangebot. Hauptwachstumszeit ist der Frühsommer, spätestens im September ist das Wachstum abgeschlossen. Im Prinzip. Das milde Herbstwetter führt allerdings dazu, dass die winterliche Ruhephase der Bäume später eintritt und allgemein kürzer wird. Derzeit gibt es Apfel- und Birnenbäume, die ein zweites Mal in diesem Jahr blühen. Auch weitere Effekte des milden Herbstwetters seien bemerkenswert: Die höheren Temperaturen begünstigen das Überleben von Schädlingen, wie es beim Bundesamt für Umwelt (Bafu) heisst. «So könnte der Borkenkäfer in höherer Zahl in die Winterpause gehen und im nächsten Frühjahr gestärkt ausfliegen. Ob es einen dritten Flug des Borkenkäfers in diesem Jahr geben wird, bleibt abzuwarten.»
Und was macht der Tourismus?
Viele Schweizerinnen und Schweizer zieht es bei diesem Wetter in die Naherholungsgebiete oder in die Berge, sie buchen aber bereits für die Monate, in denen der Schweizer Nationalsport blüht: «Der jetzige warme Herbst hat keinen Einfluss auf die Frühbuchungen für den kommenden Winter», sagt Martin Vincenz von Graubünden Ferien. Aufgrund einer Umfrage von Hotelleriesuisse Graubünden rechnet er im Schnitt mit einem Plus von rund 2 Prozent beim Buchungsstand in den Bündner Hotels für den kommenden Winter.
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