Michigan im AufschwungNie war der Zeitpunkt besser, in diesen US-Staat zu reisen
Gesucht für einen Roadtrip in den USA: Eine Region mit grandioser Natur, herzigen Städtli – und einer Metropole mit Charakter? Versuchen Sies mit – Michigan. Es ist ein Geheimtipp. Noch.
«Wir leben … hier!», erklärt der freundliche ältere Herr beim Small Talk an der Raststelle – und tippt sich mit dem Zeigefinger der linken auf die Handfläche der rechten Hand. Geht es um geografische Verortungen, suchen die Einwohner Michigans nicht lang nach Worten. Der Staat trägt den Übernamen «the Mitten State», weil er auf der Karte eben so aussieht: wie ein Fausthandschuh.
Umgeben ist der Fäustling bis zum Handgelenk von Wasser, dem Erie-, Michigan- und dem Huron-See; zusammen mit dem Lake Superior und dem Lake Ontario bunkern sie ein Fünftel des globalen Süsswassers. «Great Lakes – Unsalted & Shark Free» werben T-Shirts und Kühlschrankmagnete in Souvenirshops augenzwinkernd für die Vorzüge des Bundesstaates. Und tatsächlich fällt es uns vom Aussichtspunkt auf den Dünen der Sleeping Bear National Lakeshore schwer, zu glauben, dass wir hier nicht am Meer sind. Wasser, so weit das Auge reicht. Und dazu noch in allen möglichen Nuancen, von Tiefblau bis Türkis. Es macht sich ein Wow-Gefühl breit, ähnlich, wie man es vom ersten Blick auf den Grand Canyon kennt. Nur, dass von diesem Landschaftswunder zu Hause in der Schweiz kaum einer weiss. Ein Roadtrip durch Michigan ist – zumindest aus helvetischer Sicht – auch ein Vordringen in unerforschtes Territorium.
Die Insel der 520 Pferde
Ein Etappenziel in selbigem ist Mackinaw City – ganz oben am Handschuh, dort, wo die imaginäre mittlere Fingerspitze liegt. Der Ort besteht im Grunde aus ein paar Strassenzügen mit Motels, Diners und Souvenirläden. Hier kommt denn auch nur unter, wer sich die stolzen Übernachtungspreise auf Mackinac Island, der eigentlichen Attraktion hier oben, nicht leisten kann (oder nicht will).
Obwohl die Überfahrt auf das Urlaubsinselchen keine halbe Stunde dauert, katapultiert sie uns in eine andere Epoche. «Car free since 1898» lautet das hiesige Motto. Mit zwei kleinen Ausnahmen, lassen wir uns sagen – Ambulanz und Feuerwehr. Wenns nicht grad irgendwo brennt oder blutet, sind die jedoch gut versteckt hinter irgendeinem Garagentor.
Statt Motoren geben hier Pferdestärken in ihrer ursprünglichsten Form den Takt an. Unsere heissen Colby und Tater, sie sind zwei von 520 stattlichen Rössern, die das Leben auf der Insel am Laufen halten, indem sie nicht nur Feriengäste, sondern auch sonst ziemlich alles kutschieren, von Warenlieferungen über Postsendungen bis hin zum gelegentlichen Sarg, vorbei an schicken Villen, blumigen Vorgärten und durch die quirlige Hauptstrasse. Dazwischen mischen sich Fussgänger und, für einen Ort in Amerika, auffällig viele Velos. Wer sich an der Hauptstrasse eines mietet, kann damit die ganze Insel umrunden – auf einer aussichtsreichen Strasse direkt am Wasser, ganz ohne Autoverkehr.
Ein Grand Hotel wie aus dem Märchenbuch
Das Eiland, einst Handelszentrum der Fell-Trapper, dann Fischereizentrum, heute voll und ganz auf Touristen ausgerichtet, ist überschaubar: Eine Schule, ein General Store, 500 Ganzjahreseinwohner, die je nach Winter auch mal vom Festland abgeschnitten sind. «Da freuen sich dann alle auf die Eisbrücke», erzählt uns der bärtige Kutscher. Gefriert der See, holen die «Year Rounders», wie die ganzjährigen Bewohner genannt werden, nämlich ihre heiss geliebten Schneemobile aus dem Schuppen – und brettern unabhängig von Schiffsfahrplänen ans Festland. «Damit sich keiner verfährt, markieren wir die Route mit alten Weihnachtsbäumen.» Alle 25 Yards – also gut alle 20 Meter – sei einer ins Eis gesteckt.
Mehr als die eigenen Füsse und vielleicht zwei Pedale sind auch gar nicht nötig, um durch die an den Wilden Westen erinnernden, herausgeputzten Strässchen mit ihren Fudge-Shops, Restaurants und Boutique-Hotels zu flanieren, der Herstellung klebriger Süssigkeiten beizuwohnen oder in einer der stimmungsvollen Bars einzukehren. Oben beim Fort («das älteste Gebäude Michigans!») gibt es ein Café mit grandiosem Ausblick über Ort und Hafen, etwas ausserhalb wartet das altehrwürdige, prunkvoll ausgestattete Grand Hotel mit der – wie könnte es anders sein? – längsten Veranda der Welt. Das älteste, das grösste, das längste: Davon wird uns unterwegs noch so einiges begegnen.
So wie die autofreie Insel selbst, scheint auch das prunkvolle Hotel aus der Zeit gefallen. Grund genug, einen hauseigenen Historiker zu beschäftigen! Interessierte nimmt Bob Tagatz zwischen antiken Wanduhren, extravaganten Teppichen und Tapeten mit auf eine Zeitreise voller Anekdoten aus der 137-jährigen Geschichte des Grand Hotel.
Verlobung vor dem Leuchtturm
Unglaublich, dass das nicht das Meer sein soll! Einmal mehr beschleicht uns dieser Gedanke, als wir uns – nach dem Inselabenteuer nun wieder zurück auf dem Handschuh – beim Mission Point Lighthouse nahe Traverse City befinden. Zu Zeiten, als hier noch heftiger Schiffsverkehr herrschte, bewahrten die Leuchtturmwächter so manche Crew vor dem Auflaufen im seichten Wasser. Oder halfen auch mal bei einer Rettung mit, wenn es dafür schon zu spät war.
Heute ist das schmucke Leuchtturmhäuschen an erstklassiger Strandlage vor allem eines: beliebtes Fotosujet. Und nicht nur das: Just während unseres Besuchs fällt ein junger Mann im feinen Sand auf die Knie. «Will you marry me?» Sie sagt Ja – und schon entpuppt sich eine Strandspaziergängerin als angeheuerte Fotografin. «Ach, das passiert hier ständig», erzählt Leuchtturmchefin Ginger Schultz lächelnd.
Vieles, aber längst nicht alles spielt sich in Michigan am Wasser ab. Werbeschilder entlang des Highways verkünden die frohe Botschaft schon von weitem: Man befinde sich auf direktem Weg nach «Michigan’s Little Bavaria». Willkommen in Möchtegern-Bayern – willkommen in Frankenmuth! Hier steht «Danke schön» auf den Abfallkübeln, aus den Lautsprechern im Shopping-Village rieselt deutsche Volksmusik, und im neuen Wasserpark der Bavarian Inn Lodge bläst bald ein überdimensionales Alphorn zum nächsten Wellengang.
Zurückzuführen ist der Ortsname auf jene 15 «mutigen Franken», die 1845 auf Geheiss eines lutheranischen Priesters in Bremerhaven aufs Schiff gingen und hier, im Mittleren Westen, ihre Zelte aufschlugen – um den «Indianern zu zeigen, wie gut und schön es ist, mit Jesus zu leben». Im Jahr darauf kamen nochmals 90 Leute aus der Heimat, und so entwickelte sich Frankenmuth zu dem, was es heute ist.
Christmas all year bei Bronner’s
Hier wird das deutsche Erbe nicht nur in den Familienstammbäumen hochgehalten, es ist auch ganz grosses Geschäftsmodell. Mit Events von Oktoberfest bis Christkindlmarkt, Hunde-Expo und Oldtimershows lockt Frankenmuth das ganze Jahr über zum vergnüglichen Ausflug unter deutscher Flagge – Fachwerkhäuser, eine überdimensionale Kuckucksuhr und ein Käsemuseum inklusive. Was den Amerikanern exotisches Gaudi bietet, beschert Reisenden aus unseren Gefilden eher Grund zum Schmunzeln.
Und noch ein ganz grosser Besuchermagnet aus deutsch-amerikanischer Hand ist hier zu Hause: Bronner’s CHRISTmas Wonderland, der – Trommelwirbel – grösste Weihnachtsladen der Welt. Wie man ihn sich vorstellen muss? Wie Walmart für Christbaumschmuck. Totale Reizüberflutung – aber ein Riesenspass! Es gibt Santa Claus in allen Variationen: im Kanu, auf dem Rücken eines Seepferdchens, beim Rasenmähen oder im schottischen Quilt mit Dudelsack.
Gleich mehrere Regale nehmen die Hundeornamente ein, sorgfältig geordnet nach Rassen. Aber auch dem Wilden Westen ist eine ganze Abteilung gewidmet, ebenso den Einhörnern, den Feuerwehrmännern oder dem Camping. «Look, Judy, they have hockey uniforms!», tönt es von der anderen Seite des prall gefüllten Regals. 50’000 Ornamente habe man im Angebot, erklärt Wayne Bronner, grau-eminenter Sohn der Ladengründer – selbstverständlich auf Deutsch, wenn auch mit very dickem amerikanischem Akzent.
Dass die Schreibweise CHRISTmas nicht von ungefähr kommt, wird an der Kasse klar, wo die Verkäuferin zusammen mit der Quittung ein Pamphlet zum «wonderful life with Jesus» in die Tüte wandern lässt.
Das grösste Footballstadion der USA
In Ann Arbor, der fussgängerfreundlichen Studentenstadt – jetzt befinden wir uns ungefähr auf dem Daumenballen –, dreht sich gefühlt alles um die University of Michigan und den Football. Ergibt kombiniert: College-Football! Und der findet hier in nichts Geringerem als dem grössten Stadion der USA statt. 107’000 Sitzplätze bietet es. Zum Vergleich: Im Ford Field in Detroit spielt die Profi-Liga vor maximal 65’000 Zuschauern. «Und die haben dort sogar ein Dach. Das sind Sissies!», witzelt Don Svenson. Der Stadionführer steckt von Kopf bis Fuss im gelb-blauen Outfit der Heimmannschaft. Weshalb das Megastadion ausgerechnet in einer mit 120’000 Einwohnern zählenden, für amerikanische Verhältnisse kleinen Stadt steht? «Because we can», lächelt Svenson.
Möglich macht es die riesige Anhängerschaft. Saisonabos für die gesamte Familie gehören in und um Ann Arbor zum – kostspieligen – Haushaltsetat. Das spült Geld in die Kasse der University of Michigan. Geld, mit dem die anderen, weniger populären Sportarten querfinanziert werden. Weiterer Nebeneffekt: Im Stadion gibt es weder Werbung noch Alkoholausschank. Man könne es sich hier eben noch leisten, den Football in seiner Reinheit zu bewahren, meint der Stadionführer.
Detroit: Stadt der Motoren, Stadt der Museen, Stadt in Auferstehung
Serbelnde Autoindustrie, leer stehende Häuser, hohe Kriminalitätsrate: Viele hatten Detroit abgeschrieben. Jetzt ist die grösste Stadt Michigans wieder am Auferstehen. Und wie! Die Innenstadt wurde mit Begegnungszonen, Hinterhöfe wurden mit Pop-up-Bars aufgemotzt, neue Restaurants im Industrial-Chic-Look schiessen genauso aus dem Boden wie Rooftop-Bars mit ihren ausschweifenden Ausblicken und Cocktailkarten, und an gefühlt jeder Ecke wird gebaut. Lange Zeit leer stehende Art-déco-Gebäude empfangen Übernachtungsgäste, und aus dem grossen, ehemaligen Bahnhofgebäude – Comic-Fans dürften es als Schauplatz des Showdowns zwischen Superman und Batman kennen – entsteht ein Innovationszentrum. Detroit erfindet sich gerade neu.
Gleichwohl ist auch hier ein Besuch eine Reise in die Vergangenheit. Vor allem für all jene, welche die zahlreichen, hochkarätigen Museen in ihr Programm aufnehmen. Es nicht zu tun, wäre ohnehin ein riesiges No-Go. Da wäre zum einen das Henry Ford Museum of American Innovation. Hier hat sein vorausschauender, technologie- und geschichtsinteressierter Gründervater einst begonnen, zusammenzutragen, was für die Nachwelt von Interesse sein könnte. So sehen wir den Schaukelstuhl, in dem Abraham Lincoln ermordet und den Wagen, in dem JFK erschossen wurde. Und wir sitzen im selben Bus, aus dem heraus Rosa Parks 1955 mit ihrem Widerstand ein ganzes Civil Rights Movement entfacht hat.
«Als Henry dieses Museum ins Leben rief, war er der reichste Mann der Welt», erzählt die Museumsführerin. Wer sich ein Bild über den Quell dieses Reichtums machen will, begibt sich auf die «Ford Rouge Factory Tour» – und schaut zu, wie Menschen und Maschinen in gemeinsamer Fliessbandarbeit Autos zusammenbauen.
Motown-Museum wird enorm erweitert
Im Charles H Wright Museum of African American History nimmt uns die charismatische Storytellerin Mama Jatu mit auf eine Reise, die unter die Haut geht. Wir folgen ihr auf einem Spaziergang vom «Motherland Africa» über die Verliese, die schrecklichen Verhältnisse auf einem Sklavenschiff, bis zu den Sklavenquartieren auf den Baumwollfeldern. Es ist ein Rundgang, der beklemmend ist – und im Grunde gerade deshalb zum Pflichtprogramm eines jeden Besuchs in dieser Stadt mit rund 78 Prozent afroamerikanischem Bevölkerungsanteil gehört.
Wer danach einen Aufsteller braucht, findet ihn unweigerlich im Motown Museum – auch bekannt als Hitsville, USA. In diesem unscheinbaren weissen Häuschen hat 1952 begonnen, was zu einem der legendärsten Musiklabels überhaupt werden sollte. Die Tour (unbedingt vorgängig reservieren!) führt durch dieselben Korridore, durch die einst die Jackson Five, Marvin Gaye und die Supremes auf ihrem Weg zum Aufnahmestudio gingen. Man sieht Kostüme von Diana Ross und jenen Süssigkeitenautomaten, dem Stevie Wonder bei keiner seiner Recording Sessions widerstehen konnte. Kurzum: Hier wurde Musikgeschichte geschrieben. Und auch hier stehen Veränderungen an: Gerade erhält das Museum eine 4500 Quadratmeter grosse Erweiterung. Kostenpunkt: 65 Millionen USD.
Totale Ekstase bei den Löwen
Noch etwas erlebt während unseres Besuchs in Detroit eine Renaissance: Nach über 30-jähriger Durststrecke sind die Detroit Lions eine Woche zuvor mit einem Sieg in die Football-Saison gestartet. Und zwar gegen den amtierenden Superbowl-Gewinner! Nun soll die tolle Form bewiesen werden, gefühlt die ganze Stadt trägt an diesem Sonntag Hellblau, eine Karte für das Spiel gilt als «hottest ticket in town».
Die ersten zwei Quarters laufen wie am Schnürchen, es gibt Touchdowns und viel Gejubel. Das Ford-Field-Stadion ist der reinste Hexenkessel; bis auf 120 Dezibel treiben die 65’000 Fans den Lärmpegel immer wieder hoch. Dann, Hotdog und Bier gefasst, zurück am Platz, oh weh: Einer im Detroit-Team versauts, «irgendwer hat irgendwen geschubst, den er nicht hätte schubsen sollen», versucht es die ebenso Football-unkundige Mitreisende zu erklären. Wir verstehen die Regeln nur ansatzweise. Egal – obs gut oder schlecht läuft, spürt man ohnehin; das Adrenalin springt auch ohne Football-Knowledge auf jeden anwesenden Körper über. Die Hoffnung ist am Schwinden, da dreht das Spiel plötzlich, das Stadion kocht, es wird geschrien, gejubelt, angefeuert – noch ein paar Sekunden, in denen alles möglich ist, alles! Und dann: Die Gegner punkten. Game over.
Die Niederlage, so wird sich nach unserer Heimreise zeigen, war ein Ausreisser. Wochenlang werden die Lions Sieg an Sieg reihen, ihre Stadt und weite Gebiete rundherum monatelang in kollektive Ekstase versetzen. Und dann, in der letzten Runde vor dem Einzug in den Superbowl, doch noch eine Niederlage einstecken müssen.
Ganz so einfach ist das Märchen vom Comeback eben doch nicht. Aber die Zeichen, die stehen gut für Detroit und seine Lions. Und für eine Reise nach Michigan, diesen überraschenden, bezaubernden Bundesstaat, sowieso.
Die Recherchereise für diesen Beitrag wurde zum Teil unterstützt von Veranstaltern, Hotels, Fluglinien und Tourismus-Agenturen.
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