Mit dem Velo durch den Big AppleCycling New York
Die Metropole hat ihre Leidenschaft fürs Velofahren entdeckt. Das grosse Wegnetz bietet auch Besucherinnen und Besuchern die Möglichkeit, die Stadt, die niemals schläft, ganz neu zu erleben.
Als die Brooklyn Bridge am 24. Mai 1883 eröffnet wurde, waren Velozipedisten aussen vor. Das technische Wunderwerk bot eine Promenade für Fussgänger, eine Schienentrasse für Züge sowie eine breite Strasse für Kutschen und Fuhrwerke. Zwar war das Fahrradfahren bereits damals in Mode, doch liess die Fortbewegung auf dem Eisengestell mit Sattel und zwei harten Reifen in Sachen Komfort noch viel zu wünschen übrig.
Bekanntlich sind Fahrräder seitdem um einiges bequemer geworden, und nachdem vor rund zwei Jahren ein baulich abgetrennter Veloweg auf der ikonischen Hängebrücke geschaffen wurde, ist die 140-Jährige zum Liebling der stetig wachsenden Bikergemeinde New Yorks avanciert. Zuvor hatten sich Fussgänger und Velofahrerinnen jahrelang die über dem Autoverkehr liegende Promenade geteilt, was nicht selten zu Kollisionen führte.
Wer heute die knapp zwei Kilometer lange Passage über den East River in Lower Manhattan beginnt, cruist auf der Centre Street am hübschen City Hall Park vorbei. Das Renaissance-Rathaus mit seiner Justitia auf dem Mittelbau lohnt mehr als einen Blick. Kurz vor dem Prachtstück zweigt links die gut ausgeschilderte Brückenzufahrt ab. Eine frische, salzige Brise weht die knapp hundert Meter vom East River, der eigentlich ein Meeresarm ist, herauf. Sie macht den sanften Anstieg zu einer angenehmen Übung.
Hüfthohe Betonquader markieren den Zweirad-Highway, der eine Spur in jede Richtung bietet. Das Beste: Ab der Mitte der Brücke brausen Biker fast ohne in die Pedale zu treten hinab ins Hochhausmeer am anderen Ufer – ganz ungestört vom Autoverkehr nebenan und den Fussgängermassen eine Etage höher.
Sogar der Bürgermeister ist mit dem Velo unterwegs
Wenn Bürgermeister Eric Adams seinen Arbeitsweg zur City Hall mit dem Velo zurücklegt, dann nimmt er die gleiche Route, nur in die andere Richtung. Der 62-Jährige, früher Captain der New Yorker Polizei und zweiter Afroamerikaner als Stadtoberhaupt, wohnt in Brooklyn und zeigt sich als bekennender Velofan. Er ist seit Januar 2022 im Amt und manövrierte gleich am zweiten Arbeitstag ein Citybike durch die Rushhour zum Rathaus.
Ausgestattet mit rotem Helm, rot-weisser Krawatte und blauem Businessanzug stoppte er sogar für Selfies mit begeisterten Passanten. Seither hat der Rathauschef den Spitznamen «Bike Mayor».
Noch vor zehn Jahren erntete eher mitleidige Blicke, wer die Stadt auf zwei Rädern erkundete.
Auch wer ganz auf Nummer sicher gehen will, kann in der 8,3-Millionen-Metropole auf zwei Rädern glücklich werden: Die Rundtour durch den Central Park in Manhattan oder der Hudson Greenway auf der Westseite Manhattans sind eine gute Wahl. Letzterer führt gut 20 Kilometer auf einer Art Velohighway entlang des Flusses, auf Höhe der 14. Strasse erhebt sich mit Little Island sogar ein neues Wahrzeichen der Stadt: Der künstlich auf weissen Stelzen angelegte Park gleicht einem Wasserschloss, das völlig neue Perspektiven auf Manhattan eröffnet.
Das Eiland hat Hügel, Bänke, Spielplätze und ein Amphitheater – ein Ort wie geschaffen, um zu verweilen und durchzuatmen. Ein paar Hundert Meter weiter Richtung Norden: Velo absperren und auf zu einer weiteren neuen Attraktion, der 50-Meter-Skulptur The Vessel, die den Hauptplatz von Hudson Yards schmückt.
Dichtes Netz in allen Bezirken
Noch vor zehn Jahren erntete eher mitleidige Blicke, wer die Stadt auf zwei Rädern erkundete. Cycling New York, das war etwas für Desperados und waghalsige Velokuriere. Inzwischen verteilt Citi Bike, offizielles Verleihsystem der Stadt, 27’000 Räder auf über 1700 Stationen. Zur Auswahl stehen konventionelle City Bikes oder solche mit elektrischer Unterstützung, die alle via Smartphone-App anzumieten sind. Wers lieber old school hat, kann Tickets für die Tagesleihe auch an Stationen mit Reparaturservice kaufen. Das Netz ist dicht und deckt alle fünf New Yorker Bezirke ab.
Es ist unmöglich, durch Manhattan, Brooklyn, Queens, Bronx und Staten Island zu laufen und Citi Bike zu übersehen. Sogar Hoboken, die Stadt am anderen Hudson-Ufer im Bundesstaat New Jersey, ist einbezogen, womit Pendler aufs Velo gelockt werden sollen.
Wer die schönste aller New Yorker Brücken auf zwei Rädern erfahren hat, steuert zunächst zum Brooklyn Bridge Park, einem grünen Paradies am East River. Die Leute picknicken auf den Wiesen, spielen Volleyball, liegen am Strand von Pier Four oder geniessen staunend den Blick auf die Skyline Lower Manhattans, beherrscht vom One World Observatory, das als höchstes Gebäude New Yorks 574 Meter samt Spitze misst. Es erhebt sich an der Stelle in den Himmel, wo früher die Zwillingstürme standen, in die Terroristen zwei entführte Passagierflugzeuge steuerten.
«Hoffentlich hält die Politik ihr Versprechen, das Velonetz weiter auszubauen.»
Wie von 9/11 haben sich die New Yorker auch von der Pandemie erholt. «Die Velowege haben in dieser düsteren Zeit Leben gerettet», sagt eine Verkäuferin des Brooklyner Fahrradgeschäfts King Kog. Als die Sirenen der Notarztwagen Tag und Nacht durchheulten, garantierten die Bike Lanes selbst bei Staus ein schnelles Durchkommen. «Wir alle sind heilfroh, dass die Velowege jetzt wieder den Bikern gehören. Hoffentlich hält die Politik ihr Versprechen, das Velonetz weiter auszubauen.»
800 Kilometer Velowege bis 2025
Neben der einzigartigen Architektur und dem unheimlich reichen kulturellen Leben liegt der besondere Reiz New Yorks zum grossen Teil in dieser zukunftsgewandten und zuversichtlichen Einstellung – ein Elan, der viele Einwohner auszeichnet.
Während Corona eroberten sich Flaneure, Joggerinnen und Velofahrer den öffentlichen Raum von Autofahrern zurück. Fussgängerzonen, Grünflächen, neue Bus- und Velospuren – das fordert nun die Initiative 25/25. Insgesamt 800 Kilometer geschützte Fahrradwege sollen bis 2025 entstehen, wenn es nach dem Willen der Initianten geht. Das wären dann 25 Prozent der Strassenfläche.
Im saftig grünen Bridge Park ist bereits alles velogerecht. Richtung Westen gelangt man bequem nach Brooklyn Heights, ein Viertel, das Literaturgeschichte geschrieben hat. Ruhige Ecken wie die Montague Terrace führen in andere Zeiten: In Hausnummer fünf lebte und schrieb in den 1930ern Thomas Wolfe, von Truman Capote als «Lichtgestalt der Brooklyner Nächte» verehrt. Capote selbst wohnte, wenn auch zwei Jahrzehnte später, gleich um die Ecke in der Willow Street 70.
Von dort zweigt die Orange Street ab, der man mit dem Velo folgt, bis man rechts in die Henry Street einbiegt: malerische, zwei- und dreigeschossige Backsteinhäuser, alle mit gemauerten Treppenaufgängen, manche mit Erkern – das ganze Viertel hat Esprit. Wolkenkratzer werden erst wieder Wegbegleiter, sobald man wenig später nach links abbiegend durch die grössere Union Street Richtung Süden rollt, die einen direkt in den Prospect Park bringt.
Grüner Geheimtipp in Brooklyn
Kaum zu glauben: Das zweite grüne Wunderwerk der Metropole ist unter Touristen noch immer eine Art Geheimtipp. Locals dagegen lieben diese Oase Brooklyns: viele Hügel, weite Wiesen, Seen und ein grosses, weiss strahlendes Bootshaus, das eher einer Villa gleicht als einem Unterstand für Rudergerät.
Der Rückweg nach Manhattan verläuft vom Norden des Prospect Parks über die Classon Avenue, an der Kreuzung mit der Willoughby Avenue geht es nach rechts, um gleich an der zweiten Kreuzung links in die Bedford Avenue zu rollen. Die Szenemeile Brooklyns bringt einen zur Williamsburg Bridge, die den Bogen nach Manhattan schlägt. In der Delancey Street, Lower East Side, findet sich garantiert ein Lokal für einen kleinen Snack – und die Planung der nächsten Tour.
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