Ihr Browser ist veraltet. Bitte aktualisieren Sie Ihren Browser auf die neueste Version, oder wechseln Sie auf einen anderen Browser wie ChromeSafariFirefox oder Edge um Sicherheitslücken zu vermeiden und eine bestmögliche Performance zu gewährleisten.

Zum Hauptinhalt springen
Meinung

Kolumne von Milo Rau
Mein Ostende

Leerer als der Strand ist nur die Innenstadt, die hinter einer Skyline aus riesigen Hotels versteckt liegt: Ostende.
Jetzt abonnieren und von der Vorlesefunktion profitieren.
BotTalk

Morbide Nordseebäder haben in der Kunstgeschichte als Gegengewicht zum lichtdurchströmten Süden Tradition. Der graue, von schrägem Regen gestrichelte Himmel, die fahle Sonne, die durch vom Wind zerfetzte Wolken fällt, die monotone Wildheit der See: Das hat die Romantiker und Impressionisten zu Bildern überwältigender Tristesse inspiriert. Die deprimierendste und damit romantischste Stadt an der Nordsee ist aber gemäss allgemeiner Übereinkunft Ostende.

Das erste Mal kam ich vor einigen Jahren wegen eines Sommerfestivals in die Stadt im äussersten Westen Belgiens. Abends guckte ich mir Stücke an, und als ich vormittags in die auch im August eiskalten Wogen der Nordsee stieg, traf ich zufällig einen Schauspieler, den ich eine Woche davor in Brüssel gecastet hatte. Das war, wie ich merken sollte, typisch für diesen Ort am Ende der Welt: Die Strände sind auch in der Hochsaison leer bis Mittag, man erkennt andere Touristen auf mehrere Kilometer. Als ich vergangene Woche dort in den Ferien war, waren meine Freundin, unsere Töchter und ich die einzigen Badenden an einem Strandabschnitt so gross wie ein Fussballfeld – womit uns pro Kopf ein Rettungsschwimmer zur Verfügung stand.

Leerer als der Strand ist nur die Innenstadt, die hinter einer Skyline aus riesigen Hotels versteckt liegt – abgesehen von einem überfüllten Einkaufszentrum, in dem man aufgewärmte Waffeln essen kann. Für Kulturinteressierte gibt es Konzerte in einem an ein stalinistisches Grabmal erinnernden Kurhaus, ein zum Museum umfunktioniertes Fort aus napoleonischer Zeit und die am Atlantik üblichen Nazi-Bunker. Hauptattraktion sind, wie in jeder belgischen Stadt, eine zerfallende Sommerresidenz und eine von Aktivisten geschändete Statue des völkermordenden Horror-Königs Leopold II. Ich denke, man versteht, warum ich Ostende der Adria oder gar Ibiza vorziehe.

Ostende trat zweimal in der europäischen Geschichte in Erscheinung, und beide Male wurde es komplett zerstört.

Auch ein Blick ins Geschichtsbuch zeigt ein erstaunliches Mass an Missgeschick: Ostende trat zweimal in der europäischen Geschichte in Erscheinung, und beide Male wurde es komplett zerstört. Das erste Mal besorgten das die Spanier während des holländischen Unabhängigkeitskriegs im 17. Jahrhundert. Das zweite Mal die Royal Airforce 1944, als sie Ostende aufgrund seines strategisch wichtigen Hafens dem Erdboden gleichmachte. Was danach von der einstigen «Königin der Seebäder» noch übrig war, erledigte in den 70ern der Bauboom. Bis in die 90er-Jahre war Ostende noch wegen seiner Fähre nach England vielen Menschen bekannt, dann wurde auch diese eingestellt.

Nun ist Ostende nur noch eines: die deprimierendste und damit romantischste Stadt an der Nordsee. Ich lege sie allen ans Herz, die noch keine Ferien gebucht haben im August. Es gibt sicher noch Platz! Mein Geheimtipp: die seltsamste Statue Europas, die im Ostender Stadtpark in einem Pestwurz-Dickicht steht. Sie würdigt einen flämischen Terrier, der 1917 an der Westfront von den Deutschen erschossen wurde.