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Meinung

Kolumne Milo Rau
Hypersensibel und doch ignorant

Längst fällige Geschichtsrevision: Besprayte Statue von König Leopold II. in Brüssel.
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Warum, denke ich manchmal, sind wir eigentlich immer so schnell beleidigt? In seinem letzten Aufsatz «Das Unbehagen in der Kultur» stellt Sigmund Freud fest, dass wir umso verletzlicher werden, je zivilisierter wir sind. Das klingt erst einmal logisch: Wer Gewalt nicht kennt, empfindet sie, erfährt er sie eben doch, als unerhörte, beleidigende Ungerechtigkeit. Je gewaltloser eine Gesellschaft, desto leichter fühlt sich das einzelne Mitglied traumatisiert.

Als Theaterleiter bin ich eigentlich ständig konfrontiert mit dieser aggressiven Hypersensibilität. Spricht jemand explizit über Ungerechtigkeiten oder wird Gewalt gar offen gezeigt, dann muss der jeweilige Aufführungsort mit Triggerwarnungen vollgepflastert werden. Das strukturelle Problem an einer so gelagerten Sensibilität ist nun, dass sie in Wahrheit natürlich auf der Externalisierung realer Gewalt basiert. Damit es uns gut geht, muss es anderen weniger gut gehen. Oder psychologisch ausgedrückt: Je sensibler wir selbst werden, desto irrelevanter muss uns das Leiden jener werden, die uns unsere feinen Gefühle finanzieren.

Je aufgeklärter eine Gesellschaft, desto unreflektierter das Fundament,
auf dem sie steht.

Egal also, dass unsere Handys, T-Shirts oder Sojadrinks im Globalen Süden unter Missachtung aller Menschenrechte produziert werden – solange auf den Etiketten dieser Billigstprodukte keine rassistischen Abbildungen zu sehen sind. Man könnte es fast als Regel festhalten: Je aufgeklärter eine Gesellschaft, desto unreflektierter das Fundament, auf dem sie steht. Die Griechen verachteten Frauen und hielten Sklaven, gleichzeitig erfanden sie die Philosophie, die Demokratie und das moderne Menschenbild. Oder Thomas Jefferson, der Autor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in welcher der Satz «Alle Menschen sind gleich geschaffen» steht: Er war zugleich Sklavenhalter und Gegner der Sklaverei.

Die Reiterstatue des belgischen Königs Leopold II. in Ostende an der Atlantikküste – wo ich oft Ferien mache – bezeichnet ihn als «Besieger der arabischen Sklaverei» im Kongo; um den Sockel sind nackte Schwarze versammelt, die dankbar ihre Hände in die Höhe recken. Diese aber liessen die Emissionäre des belgischen Königs in Wahrheit gern als Strafe abhacken: Auf die Rechnung König Leopolds gehen gemäss kritischen Historikern 10 Millionen Tote im Lauf des kongolesischen Kautschukbooms Ende des 19. Jahrhunderts.

Als wir vor einem Jahr dem belgischen Kulturminister eine abgehackte Hand des Standbilds überreichten, schien das ein Spleen einiger Aktivistinnen. In den letzten Wochen sind in ganz Belgien die Statuen König Leopolds besprayt und gestürzt worden: eine längst fällige Geschichtsrevision als modischer Volkssport. Zu hoffen ist, dass er nicht im symbolischen Shaming einiger besonders widersprüchlicher – und längst toter – historischer Figuren stecken bleibt. Denn dann wäre der Fall der Statuen nur ein weiteres Kapitel der aggressiven Hypersensibilität des Westens. König Leopold: Das sind, ob es uns gefällt oder nicht, wir alle.

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