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Meinung

Cenk testet Lebensweisen
Mein Monat als Egoist

«Wäre es in Anbetracht der Endlichkeit allen Lebens wirklich so schlimm, wenn ich meine begrenzte Zeit auf diesem Planeten mir selber widme?»: Cenk Korkmaz.
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Ego·is·mus

Substantiv, maskulin [der]

1a.
[ohne Plural] [Haltung, die gekennzeichnet ist durch das] Streben nach Erlangung von Vorteilen für die eigene Person ohne Rücksicht auf die Ansprüche anderer

1b.
[ohne Plural] Philosophische Lehre, Anschauung, nach der alles, auch das altruistische Handeln, auf Selbstliebe beruht

«Wann haben Sie das letzte Mal nur an sich gedacht?», war eine Frage aus einem Onlinetest, den ich zur Ermittlung meines Egoismus-Levels gemacht hatte. Wenn man drüber nachdenkt, realisiert man, wie selten das der Fall ist. Dass man einfach mal nur an sich selber denkt. Ohne Kompromisse einzugehen.

Denn es wurde mir von klein auf beigebracht, an andere zu denken. Rücksicht zu nehmen. Ja zu sagen, wenn man um etwas gebeten wird. Ja, ich komme mit. Ja, Sie dürfen sich vor mir anstellen. Ja, ich helfe gerne. Und nicht egoistisch zu sein. Aber genau das ist es, was mich zum Nachdenken bringt.

Rücksicht wurde mir grösstenteils anerzogen. Ich achte auf die Bedürfnisse anderer, weil ich das gelernt habe. Meinen Egoismus zu unterdrücken. Deswegen komme ich nie dazu, mal nur an mich zu denken. Nicht, weil Selbstvernachlässigung in meiner Natur liegen würde.

Hingegen scheinen egoistische Gedanken sehr wohl in meiner Natur zu liegen. Um egoistisch zu handeln, muss ich den Egoismus nicht ein-, sondern die gelernte Rücksicht ausschalten. Der Egoismus ist eigentlich immer da. Er wird nur die meiste Zeit verdrängt. Warum eigentlich?

Schliesslich heisst es doch: «Wenn jedä für sich luegt, isch für all glueget.» Was grundsätzlich auch stimmt. Ausser für diejenigen, die auf Unterstützung angewiesen sind. Wie der alte Mann. Im vollen Bus. Dem ich aus Egoismus keinen Platz angeboten hatte. Ich ignorierte seine platzsuchenden Blicke. Was leider zum Augenkontakt mit einem anderen Mann führte. Einem jungen, muskulösen Mann. Der hinter dem alten Herrn stand und mich aufforderte, den Platz frei zu geben. Dass ich ihn bat, sich um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, hielt ihn jedoch nicht davon ab, an mich heranzutreten und mir unmissverständlich klarzumachen, dass er mich ansonsten zwingen würde. In seinen Worten: «Besser für dich.» Also stand ich auf. Und gab den Platz frei. Aus purem Egoismus. Denn der junge muskulöse Mann hatte recht. Es war tatsächlich besser für mich, im Stehen zu fahren, als im Sitzen verprügelt zu werden.

Helfen ist ja schön und gut. Aber andererseits würde ich auf diese Weise nie für mich selber schauen können. Weil es immer andere geben wird, denen ich helfen könnte, anstatt das Leben zu geniessen. Im Alltag, in der Familie, im Umfeld, in der Region, in der Nation oder auf der ganzen Welt. Ich könnte mein gesamtes Leben dem Leben anderer widmen und all meine Ressourcen dafür aufwenden. Aber was würde das für mein eigenes Leben bedeuten? Würde ich mein Leben damit nicht gewissermassen opfern?

Wäre es in Anbetracht der Endlichkeit allen Lebens wirklich so schlimm, wenn ich meine begrenzte Zeit auf diesem Planeten mir selber widme und das Leben, das mir geschenkt wurde, maximal auskoste?

Keine Ahnung. Aber einen Probemonat war es mir auf jeden Fall wert.

Denn es fühlte sich tatsächlich sehr gut an, den inneren Unterdrücker mal auszuschalten. Nein zu sagen. Nein, heute bleibe ich zu Hause. Nein, Sie dürfen sich nicht vordrängeln. Nein, da kann ich leider nicht helfen. Allein schon der Vorsatz, sich einen Monat lang guten Gewissens nur auf die eigenen Bedürfnisse zu konzentrieren, war auf seltsame Weise erfrischend. All die Tabuisierung der egoistischen Gedanken fiel wie eine Last von meinen Schultern, und ich realisierte, wie sehr ich mich selbst vernachlässigt hatte. Was letztendlich auch denen schadet, denen ich helfen wollen würde. Wie im Flugzeug. Dort wird man ja auch aufgefordert, zuerst die eigene Sauerstoffmaske aufzusetzen, bevor man anderen hilft. Schliesslich hat der andere auch nichts davon, wenn ich bewusstlos auf seinem Schoss liege.

Noch nie zuvor hatte ich über einen längeren Zeitraum nur an mich selbst gedacht. Erst durch die rein egoistische Betrachtungsweise begann ich die Dinge neu zu definieren und realisierte, dass es keinen Sinn macht, seinen Egoismus zu unterdrücken und ihn als Laster zu sehen.

Stattdessen akzeptiere ich ihn als Teil meiner Persönlichkeit und versuche meine Werte so festzulegen, dass ich auch bei egoistischem Handeln rücksichtsvoll agiere. Und meine Mitmenschen achte, ohne mich selbst ausser Acht zu lassen. Weil das am Ende besser ist für mich.