Cenk testet Lebensweisen Mein Monat als Altruist
Absolute Selbstlosigkeit. Pure Uneigennützigkeit. Hundertprozentiges Handeln zum Wohle anderer. Völliger Schwachsinn. So viel kann ich schon mal sagen. Wenn ich etwas in diesem Monat gelernt habe, dann, dass es so etwas wie absolute Selbstlosigkeit nicht gibt.
Al·t·ru·is·mus
/Altruísmus/
Substantiv, maskulin [der]
Selbstlose Denk- und Handlungsweise; Uneigennützigkeit
Das allererste Hilfsprojekt; und schon kam ich an meine Grenzen. Alle sprechen nur davon, wie toll es ist, wohltätig zu sein. Und wie erfüllend. Und sinnstiftend. Aber niemand sagt dir, dass nichts auch nur annähernd so gut organisiert ist, wie es das Mindestmass an Organisation erfordern würde, um die Wohltätigkeit einigermassen vernünftig erbringen zu können. Niemand warnt dich davor, dass du beim Versuch, zu helfen, innerlich ausrasten wirst. Und dass du bei all dem Frust äusserlich trotzdem ruhig bleiben musst. Und geduldig. Und verständnisvoll. Und empathisch. Und positiv. Du musst so dammi positiv sein. Als Wohltäter musst du deinen inneren Kritiker ertränken. In purer Liebe. Und darfst die Nerven nicht verlieren. Schliesslich bist du ja freiwillig da. Zum Helfen. Du machst es ja gerne. Von Herzen. Aber so einfach ist das nicht.
Gut, mein erstes Projekt war auch ein spezielles Hilfsprojekt. Der Umzug meiner besten Freundin. Vielleicht sollte ich meine dortige Erfahrung nicht gleich auf alle Hilfsprojekte projizieren, die es sonst noch so gibt. Vermutlich gibt es auch welche, die richtig gut organisiert sind. Ziemlich sicher sogar. Nur war meins – leider keins.
Ich wurde frühmorgens bestellt. Als Umzugshelfer. «Bisch am halbi achti ready?», hiess es. Und ich war ready. Voll ready. Ich schon. Nur die Wohnung nicht. Die Wohnung hatte noch nicht einmal mitbekommen, dass sie in Kürze verlassen wird. Die Sachen lagen überall rum, nur teilweise eingepackt. Nach stundenlanger Ineffizienz gaben wir dann schliesslich auf. Und bestellten Pizza. Die wir auf dem Sofa assen. Das Sofa, das nun mitten im Treppenhaus vor dem Lift stand. Weil es weder in den Lift noch durch das enge Treppenhaus des Altbaus gepasst hatte. Und sich komischerweise auch nicht mehr zurück durch die Wohnungstür schieben liess. Das Sofa war verhext. Und wir waren zwei Muggel.
Dabei hatte der Monat so gut begonnen. Ich hatte mir fest vorgenommen, keine Einzelwohltätigkeiten zu vollbringen, die ich nicht langfristig durchziehen konnte. Sondern meinen Lebensstil anzupassen und mich bei jeder Gelegenheit für Selbstlosigkeit zu entscheiden. Normalerweise, wenn die Frau an der Coop-Kasse fragt, ob ich Aktions-Sticker sammle, lehne ich dankend ab. Aber in diesem Monat habe ich bei sämtlichen Einkäufen gesammelt. Nicht für mich. Ich nahm die Sticker entgegen und gab sie weiter. An Sammlerinnen und Sammler. Eine ältere Dame durfte ich mehrfach beschenken. So macht helfen Spass. Schnell, einfach, effizient.
Aber vollkommen uneigennützig war das nicht. Ich empfand riesige Freude. Streng genommen hätte es aber nichts geben dürfen, was meinem Selbst zukommt. Und wenn doch, dann war es nicht gänzlich selbstlos. Sondern – auch – eigennützig.
Ich habs echt versucht. Ich schaffe es, graduell mehr oder weniger selbstlos zu sein, aber niemals absolut. Ich trenne meinen Abfall, achte auf Bio und Fair Trade, bin notorischer ÖV-Nutzer, und das Tierwohl liegt mir auch sehr am Herzen. Aber am Ende tu ich es immer auch aus egoistischen Gründen. Selbstbeweihräucherung, soziale Anerkennung, Ego-Boost, Gewissensreinigung, Stiftung eines Lebenssinns. Als Vollzeit-Wohltäter würde ich mir vermutlich einen Superhelden-Umhang kaufen, für zu Hause.
Aber sogar wenn ich für das Leben eines geliebten Menschen mit einem Haifisch kämpfen würde, wäre er da, der Eigennutz. Wo man doch bei einem Haifischkampf zunächst einmal nicht allzu viel Eigennutz vermuten würde. Und doch ist er da. Er liegt darin, dass ich lieber sterben würde, als mit dem Verlust eines geliebten Menschen zu leben. Den ich auch noch hätte retten können, indem ich dem Hai in den Rachen gesprungen wäre. Mit einem Strecksprung. So gesehen, wäre es sogar extrem egoistisch von mir. Nicht nur, weil ich damit dem ewigen Leid entgehe, sondern weil ich es einem geliebten Menschen weitergebe. Indem ich ihn traumatisiere. Kreischend. Mit einem Haifisch-Rachen-Strecksprung.
Selbstlosigkeit ist ein enorm komplexes Unterfangen. Was nicht bedeutet, dass man sie nicht trotzdem anstreben sollte. Man darf sich dabei nur nicht einbilden, tatsächlich gänzlich selbstlos zu sein. Der Egoismus bleibt ein integraler Bestandteil allen Handelns. Man muss sich und seine Motivationen ständig hinterfragen und mit sich selbst ehrlich ins Gericht gehen. Ich frage mich, ob es andersrum einfacher wäre. Gänzlich egoistisch zu sein. Vielleicht liegt der Schlüssel zu einem glücklichen Leben ja dort begraben. Einen Versuch ist es wert.
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